Geschichte

Das Afghanistan-Debakel der Sowjetunion

Sowjetische Armeefahrzeuge und Panzer am 15. Mai 1988 hinter einem mit künstlichen Blumen und roten Fahnen dekorierten Stacheldrahtzaun: An diesem Tag begann der sowjetischeTruppenabzug.
Sowjetische Armeefahrzeuge und Panzer beginnen am 15. Mai 1988 mit dem Truppenabzug. © picture alliance / AFP
Von Gregor Ziolkowski · 21.03.2014
Die Autorin Swetlana Alexijewitsch nähert sich dem Krieg der Sowjetunion in Afghanistan über persönliche Gespräche mit zurückgekehrten Kriegsveteranen und ihren Angehörigen. Eindrucksvoll formt sie das Gehörte zu kondensierten Protokollen.
Man könnte dieses Thema für entrückt halten. Der Afghanistan-Krieg, den die Sowjetunion von 1979 bis 1989 führte, um ihre "südliche Grenze zu schützen" und den "Brüdern" dort beim "Aufbau des Sozialismus zu helfen", ist eine der übelsten Episoden in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber eben Geschichte. Oder doch nicht?
Zwei Kriege in Tschetschenien, mehrere Konflikte mit Georgien, unlängst das gewalttätige Vorgehen gegen die Ukraine verweisen auf eine blutige historische Kontinuität im Entfachen "kleinerer", regional begrenzter Kriege, an deren Beginn jenes Afghanistan-Debakel der Sowjetunion stand und die das heutige Russland offensichtlich fortführt. "Zinkjungen" erweist sich als ein Buch von bedrückender Aktualität.
Es ist weit entfernt von einer historischen Dokumentation. Keine Frontverläufe, keine Schlachtbeschreibungen, keine geopolitischen Strategien stehen hier zur Debatte. "Unbeirrt arbeite ich (...) an ein und derselben Aufgabe - die Geschichte auf den Menschen herunterzubrechen", erklärt Swetlana Alexijewitsch ihr Konzept der literarischen Dokumentarerzählung.
Wie in allen ihren Büchern geht sie auf Individuen zu, sucht persönliche Erfahrungen, Reflexionen, Gefühle und Erinnerungen von zurückgekehrten Kriegsveteranen und ihren Angehörigen – hier vor allem Müttern und Ehefrauen bzw. Witwen – und formt das Gehörte zu kondensierten individuellen Protokollen. In diesem Kondensationsprozess liegt das "Geheimnis" dieser Autorin.
Zu Aussagen von höchster Intensität verdichtet
Die recht kurzen Texte sind jeweils das Ergebnis mehrstündiger Gespräche. Mit feinem Sensorium filtert sie die stärksten Elemente heraus und verdichtet sie zu Aussagen von höchster Intensität. Die ist nicht immer leicht zu ertragen: Wenn die Heimgekehrten erzählen, wie sie ihre Gliedmaßen verloren oder andere Schäden davongetragen haben, unter welch üblen Bedingungen der Kriegsalltag verlief, wie ihre Kameraden zu Tode kamen – es sind grausige, zutiefst erschütternde Szenen.
Nicht minder verstörend sind die schmerzgetränkten Erinnerungen der Mütter an die Momente, in denen sie die Todesnachricht erreichte. In verschlossenen Zinksärgen wurden die Toten zurückgebracht oder das, was von ihnen übrig geblieben war. Selbst die Berichte der heil Zurückgekehrten schockieren. Die da losgezogen waren unter dem Eindruck einer pompösen Propaganda (Heldengarantie eingeschlossen), fanden sich wieder in einer geradezu feindseligen Umgebung.
Die staatlichen Lügen waren unter dem Druck der Wirklichkeit zusammengebrochen, die Tatsache, dass hier ein sinnloser Krieg geführt wurde, dass Tausende junger Männer regelrecht verheizt wurden, war in die Gesellschaft gelangt. Entsprechend tief war das Prestige der "Afghanen" bei ihrer Rückkehr gesunken.
"Schandfleck" Afghanistan
Beinahe wie geldgierige Söldner, die ohne Sinn und Zweck in ein Land eingefallen waren, wurden sie betrachtet. Der sich allmählich auflösende Staat, nun auch im eigenen Territorium konfrontiert mit dem "Schandfleck" Afghanistan, kümmerte sich höchst nachlässig um seine Heimkehrer. Nicht jeder hielt das aus. Zwischen stiller Verzweiflung, psychischen Störungen bis hin zu Mord und Selbstmord reicht das Spektrum der Reaktionen jener, die sich plötzlich als Aussätzige vorkamen.
Sehr aufschlussreich ist der letzte Teil dieses Buches: Er dokumentiert in Auszügen jenen Prozess in Minsk 1992/93, den zwei der Interviewten gegen die Autorin anstrengten, weil sie Passagen des Textes als ehrverletzend empfanden. Ein ganz im Klima der Sowjet-Nostalgie und der Restauration agierendes Gericht gab ihnen zunächst teilweise recht.

Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen
Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko und Ganna-Maria Braungardt
Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München 2014
318 Seiten, 21,90 Euro