Gertrud Leutenegger: "Späte Gäste"

Das Leben ist ein Horchen auf Schritte

06:07 Minuten
Das bunte Buchcover gehört zur Neuerscheinung "Späte Gäste" im Suhrkamp Verlag.
Eine Totenwache, die in die Zukunft weist: Gertrud Leutenegger erzählt auf faszinierende Weise von der Gegenwart. © Suhrkamp/ Deutschlandradio
Von Rainer Moritz · 24.08.2020
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In einem Tessiner Gasthof sitzt eine Frau und erinnert sich, wie sie einst von hier floh: vor einem dem Alkohol verfallenen Mann. Mit traumwandlerischer Sicherheit lässt Gertrud Leutenegger in "Späte Gäste" Gegenwart, Traum und Vergangenheit ineinander fließen.
Unauffällige Sätze sind es, die Gertrud Leutenegger in ihre Prosa einstreut, ja dort zu verstecken scheint. Sätze, die die Wirklichkeitsauffassung ihrer Figuren spiegeln und zugleich zentrale Elemente ihrer Poetik verraten.
Das ganze Leben sei, heißt es so in ihrem neuen Roman "Späte Gäste", ein "Horchen auf Schritte", und wenn dem Kind der Ich-Erzählerin attestiert wird, eine "traumwandlerische Fähigkeit" zu haben, "von einer Wirklichkeit in die andere hinüberzuwechseln", so geht man nicht falsch, darin das wesentliche Prinzip ihres schwebenden, zwischen mehreren Sphären lavierenden Erzählens zu sehen.
"Späte Gäste" ist der aus drei Teilen bestehende Roman einer Nacht. Die Erzählerin ist ins Tessin zurückgekehrt, das sie einst "in bitterer Hast" zusammen mit ihrem Kind Richtung Norden verließ. Zurückgelassen hatte sie damals ihren Lebensgefährten Orion – eine Figur, die man aus Leuteneggers Roman "Pomona" (2004) kennt –, der an seinen Misserfolgen als Architekt und am Alkohol zu zerbrechen drohte. Jetzt, viele Jahre später, kehrt sie zurück: Orion ist gestorben, und sie hält die Totenwache für ihn.

Gedichte auf Toilettenpapier

Schauplatz ist ein altes Wirtshaus am Waldrand, eine Villa, die bessere Tage gesehen hat. Allein ist die Erzählerin in dieser Nacht: Der Wirt ist in seiner sizilianischen Heimat; ihre Tochter sitzt noch im Nachtzug, und die Wirtschafterin Serafina begeht den Fasnachtsauftakt im Dorf.
Unheimlich und kalt ist es in diesem Gasthaus. Die Frau dämmert vor sich hin, wickelt sich in kratzende Wolldecken, bestaunt den bröckelnden Stuck und die Fresken, öffnet Schubladen und meint fremde Gestalten zu hören, die durch die Säle der Villa wandeln.
Die sonderbare Atmosphäre bringt es mit sich, dass Gegenwart, Traum und Vergangenheit ständig ineinander geblendet werden. Erinnerungen werden wach, an Orion, an Kindheitsepisoden oder an die Mutter – etwa an deren bezaubernde Liebe zu einem Mann, der ihr auf Toilettenpapier Gedichte schrieb. So führt Orions Tod dazu, die unterschiedlichsten Lebensfäden zusammenzuführen, zumindest für eine Nacht.

Magische Fasnachtswelt

Seit ihren Anfängen in den Siebzigerjahren hat Gertrud Leutenegger eine imponierende Souveränität entwickelt, einen leuchtenden Teppich aus nicht voneinander zu trennenden Motiven und Farben zu weben, ohne dass die Bilder künstlich oder pompös wirkten.
Zu diesem Teppich gehört in "Späte Gäste" ein höchst aktuelles Thema, die Bootsflüchtlinge, die an den Küsten Siziliens stranden. Wie das Tessiner Dorf seit jeher Menschen aus vielen Ländern aufnahm, so sind es nun die Migranten aus Afrika oder Syrien, die nicht mehr "wegzudenken" sind.
Es ist staunenswert, wie Gertrud Leutenegger diese Erfahrung mit der magischen Fasnachtswelt, unter die sich die Masken der "Schönen" und "Hässlichen" traditionellerweise mischen, ohne jede Aufdringlichkeit verbindet. Der Wirt und seine Wirtschafterin schlagen diese Brücke in eine neue Welt. Das Wachen neben dem toten Orion weist trotz alledem in eine "Zukunft".
So, das zeigt dieses Buch, lässt sich von der Gegenwart erzählen.

Gertrud Leutenegger: Späte Gäste
Suhrkamp, Berlin 2020
175 Seiten, 22 Euro

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