Gerhard Falkner: „Schorfheide“

Wie ein Hase auf Koks

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Im Vordergrund ist das Cover des Buches "Schorfheide", im Hintergrund eine Auenlandschaft der Schorfheide in der der Nebel hängt.
"Eine ganze Kiste von Natur": Nicht weit von Berlin entfernt ist die Schorfheide. © Piper Verlag / Imago / Volker Hohlfeld
Von André Hatting · 17.05.2019
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Der Lyriker Gerhard Falkner begibt sich an die frische Luft. Genauer gesagt in die Schorfheide. Dort beobachtet er die Natur und die Menschen und macht sich Gedanken. Doch das Vergnügen wird leider getrübt - durch Falkner selbst.
Gebrochene Naturlyrik als Animateur des Verstandes, so lassen sich Gerhard Falkners neue Gedichte beschreiben. 75 mal "Schorfheide" als Überschrift über Zeilenfäden, die Eindrücke aus dieser Landschaft nordöstlich von Berlin mit Gedanken und (Krypto-)Zitaten aus Philosophie, Wissenschaft und Literatur verweben:

Schorfheide

[…]
wenn der nackte Diptam rosa sich
nach oben richtet und im fünften Blatt
das Palimpsest mit Zimt beschriftet
oder mit Zitrone, wenn die Bohne
ihren glatten Körper aus der Schote
auf den Acker schmettert
und der große weiße BMW den fahlen Dunst
des Nachmittags durchbrettert
dann sind wir sicher kurz vor Angermünde
und um siebzehn Uhr dreiundvierzig
geht fahrplanmäßig der Regionalexpress
zurück nach Berlin Gesundbrunnen

Falkner pflügt hier Novalis‘ Gedicht "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren" um. Die romantische Sehnsucht nach dem "geheimen Wort" verkommt zur schwülstigen Naturerotik, in die am Ende der schnöde Alltag hineinrauscht.
Falkner vermisst – im Doppelsinn – einen naturpoetischen "Grundwortschatz": "Hier stehen / ganze Kisten von Natur, die auf neue Namen / warten".
Seine eigenen Verse schlagen in der "Schorfheide" Haken wie ein Hase auf Koks:
"Frisch geduscht und gegoogelt trete ich hinaus"
"Ich habe morgens überhaupt keine Chance mehr / meine Socken wiederzufinden / so existenziell ist alles geworden"
"Was geht hier ab / mich aus tausend runden Augen / anzupixeln".

Falkners Rücktritt vom Rücktritt

Gerhard Falkner ist der alte Haudegen unter den deutschen Lyrikern. Einer, der seinem dichterischen Wort noch alles zutraut: Weckruf des Verstandes, Waffe gegen Gebrauchsliteratur und nicht zuletzt existenzielle Selbstbestimmung und -behauptung zu sein.
Und weil es ihm so tiefernst ist mit der Dichtung, gibt es bei Falkner oft die große Geste. Jahrzehntelang verweigert er sich dem literarischen Betrieb, gibt keine Lesungen, tritt nicht auf Veranstaltungen auf.
1989 verkündet er plötzlich das Ende seines lyrischen Schaffens. Elf Jahre später erscheinen dann doch wieder Gedichte. Falkner widerruft seine frühere Entscheidung als "Fehler" und begründet das ausführlich in Essays und anderen Reflexionen.

Der Genuss der Gedichte ist gestört

Der theoretische Aplomb ist eine Spezialität des heute 68-Jährigen. Auseinandersetzungen über die "höhere Wirklichkeitsauflösung" des Gedichts und gegen seinen "Unwert" und die "geführte" Sprache – gemeint ist die strategische Kommunikation – das sind poetologische Fregatten, die seine Lyrik wie Schlachtschiffe aussehen lassen.
Auch "Schorfheide" führt mit dem Hinweis auf einen früher veröffentlichten Essay und einem "Schlusswort" solche Beiboote mit sich. Aber deren theoretische Munition wirkt nicht richtig scharf. Sie stören eher den Genuss dieser Gedichte, als dass sie ihn befeuerten.
Lieber ein kühles Bierchen schlürfen und dabei ganz relaxt Falkners Intertext-Festival en plein air genießen, das mit Pound, Celan, Brecht, Goethe, Kafka und vielen anderen ein imposantes Line-Up bietet.

Gerhard Falkner: "Schorfheide. Gedichte en plein air"
Berlin Verlag, Berlin 2019
128 Seiten, 22 Euro

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