Georg Koch: "Funde und Fiktionen"

Wie wir uns selbst in der Steinzeit spiegeln

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Buchcover zu "Funde und Fiktionen: Urgeschichte im deutschen und britischen Fernsehen seit den 1950er Jahren" von Georg Koch
Wie es wirklich war, weiß niemand. Aber wie im Fernsehen bestimmt nicht. Buchcover zu "Funde und Fiktionen". © Wallstein Verlag
Von Edelgard Abenstein · 05.08.2019
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Was wir von der Steinzeit wissen, muss naturgemäß Stückwerk bleiben. Und doch zeichnen Film und Fernsehen stets ein buntes und detailliertes Bild von unseren Anfängen. Ein neues Buch zeigt auf, wie wir darin vor allem uns selbst finden.
Wer sind wir? Woher kommen wir? Archäologisch schwer zu beantworten - außer Scherben, Splittern, Skelettfragmenten ist aus der Urgeschichte der Menschheit nichts überliefert. Wer unsere ältesten Vorfahren waren, wie sie aussahen, lebten, sich ernährten, darüber gibt es kein gesichertes Wissen, keine Schrift, kein Bild.
Angesichts einer solch mageren, lückenhaften Quellenlage schießen seit jeher die Spekulationen ins Kraut, bei der Wissenschaft selbst, die sich mit der fernsten Vergangenheit beschäftigt und in den Medien, die das "Damals" publikumswirksam vergegenwärtigen.

Forschung: vom Stichwortgeber zum Akteur

In "Funde und Fiktionen" zeigt nun der Historiker Georg Koch eindrucksvoll, wie sich jede Epoche über unsere Herkunft ihr eigenes Bild macht. Dazu untersucht er die jahrzehntelang avanciertesten Popularisierungsmaschinen, Film und Fernsehen, die anders als Sachbücher und Museen regelmäßig ein Millionenpublikum erreichen. Und er zeichnet nach, wie sich im Zusammenspiel mit den Medien auch die Rolle der Wissenschaft wandelte, vom Stichwortgeber zum Akteur.
Materialreich schildert er schon die Anfänge: Als in den 1920er Jahren der Steinzeitmensch im Gewand einer rückwärts gewandten Utopie heiter über die Leinwand lief, um dann, in Vorfilmen zu Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" oder in aufwendig inszenierten Spektakeln als "Urgermane", als "Arier", den Ursprungsmythos der Nazi-Ideologie abzubilden.
Welche unheilvolle Rolle die prähistorische Archäologie dabei spielte, erzählt das Buch genauso wie den Aufstieg britischer Paläoanthropologen zu Medienstars in gut inszenierten Straßenfegern, in denen Ausgrabungen vom knochentrockenen Spatenjob zur romantischen Schatzsuche mutierten.

Denkende, fühlende, liebende Neandertaler

Ausführlich untersucht Koch die in die Urgeschichte projizierten Geschlechterverhältnisse, wenn er den vermeintlich "natürlichen" Erklärungen - er jagt, sie sammelt - auf den Grund geht. Obwohl diese Arbeitsteilung durch nichts belegt ist, inszenierten Filme regelmäßig glückliche Vater-Mutter-Kind-Konstellationen. In den 1990er Jahren taucht dann in "Ao - der letzte Neandertaler" zeitgemäß die erste Patchworkfamilie auf.
Auch sonst folgt die Darstellung der Urzeit zeittypischen Selbstauffassungen der Menschheit: So schwingen um die Jahrtausendwende Neandertaler nicht mehr bloß barbarisch Keulen, sie denken, fühlen, lieben – im Reenactment-Kostüm, in knalligen Kulissen, egal ob im Doku-Drama à la Terra X, im Reality-TV oder in aufwendig inszenierten Spielfilmen.
Das Buch ist übersichtlich aufgebaut, es folgt der Chronologie. Von den Anfängen der prähistorischen Archäologie als Orchideenfach im 19. Jahrhundert fast bis in die Gegenwart.
Sieht man vom genretypischen Jargon ab, dessen kniefällige Wissenschaftsfloskeln den Lesefluss mitunter empfindlich stören, ist Kochs Buch mehr als eine überaus fleißig gearbeitete Dissertation. Zeigt es doch, dass wir, nach unseren Wurzeln suchend, auch im längst Vergangenen, im Fremden stets uns selber finden.

Georg Koch: Funde und Fiktionen. Urgeschichte im deutschen und britischen Fernsehen seit den 1950er Jahren
Wallstein Verlag, Göttingen 2019
376 Seiten, 34,90 Euro

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