Genozidforscher: Völkermord an Armeniern ist historisch nachgewiesen

Moderation: Nana Brink · 09.03.2006
Der Historiker Medardus Brehl hat bekräftigt, dass die Deportation und Ermordung von mehr als einer Million Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord zu bezeichnen ist. Dies lasse sich sowohl historisch als auch juristisch nachweisen, sagte der Wissenschaftler vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum im Deutschlandradio Kultur.
Brink: In unserer losen Reihe über türkische Identitäten interessiert uns auch ein heikles, vor allem in der Türkei heikles Thema: Der Völkermord an den Armeniern 1915. Der sogenannte Marsch auf Berlin, der am 18. März stattfinden soll, wird von nationalistisch gesinnten Türken organisiert, die - so ein Zitat - wollen, "dass endlich Schluss gemacht wird mit den Genozidlügen". Ihre Forderung zum Beispiel an den deutschen Bundestag: In keinem deutschen Schulbuch soll mehr auf den Genozid an den Armeniern, in ihren Worten: die Massakerlügen, aufgeklärt werden. Das deutsche Parlament soll zum Beispiel seine 2005 einstimmig angenommene Erklärung zu den Morden zurücknehmen.

Am Telefon begrüße ich den Historiker Medardus Brehl, vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhruniversität Bochum. Herr Brehl, es ist in der internationalen historischen Forschung inzwischen ja unumstritten, dass 1915 ein Völkermord an den Armeniern stattgefunden hat. Einzig die Türkei bestreitet das und hier im Radiofeuilleton heute Vormittag hat sich Professor Faruk Sen, der Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, vehement gegen den Begriff Völkermord gewehrt. Warum eigentlich?

Brehl: Das hat damit zu tun, dass das Ereignis selbst - der Völkermord an den Armeniern - in der osmanischen Türkei 1915/1916 selbst einer der Gründungsmomente dieser modernen Türkei gewesen ist. Das heißt, der Völkermord selbst ist eingebunden in einen Umgestaltungsprozess des osmanischen Vielvölkerstaats in einen modernen türkischen Nationalstaat, in einen homogenen, türkischen Nationalstaat mit der Verwirklichung einer homogenen, türkischen Bevölkerung im Kernland Kleinasiens. Und das ist ein ganz, ganz zentraler Punkt.

Das heißt, es ist einer der Gründungsmomente der modernen Türkei. Und mit der Anerkennung dieses Völkermordes würde man natürlich auf diese Geschichte der modernen Türkei und ihrer Gründung selbst einen dunklen Punkt und einen Makel werfen. Das ist sicherlich einer der Gründe, warum die Anerkennung dieses Ereignisses als eines intendierten und geplanten Völkermords - was sich auch so nachweisen lässt und von der historischen Forschung ja auch nachgewiesen worden ist - das begründet halt, warum man sich so dagegen wehrt, diesen Begriff anzuwenden oder anzuerkennen.

Brink: Für Sie ist es also unumstritten, dass man den Begriff Völkermord, also Genozid, anwenden kann in diesem Falle?

Brehl: Es ist unumstritten, dass man diesen Begriff Völkermord anwenden kann. Es ist historisch nachgewiesen, es lässt sich auch juristisch nachweisen, es passt auch hundertprozentig unter die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 und zwar nicht nur hinsichtlich dessen, dass die dort geschilderten Taten, die als Völkermord bezeichnet werden, auf die Ereignisse von 1915/16 zutreffen sollen, die Gültigkeit der Völkermordkonvention selbst wird auch auf Ereignisse in der Vergangenheit angewendet. Das steht in der Präambel der Völkermordkonvention selbst darin.

Brink: Also es ist ein international anerkannter Begriff, nicht was sich irgendwelche Historiker ausdacht haben?

Brehl: Nein, nein, das ist überhaupt nicht etwas, was sich Historiker ausgedacht haben, sondern es ist ein international von der Forschung - sowohl von der historischen, als auch teilweise von der völkerrechtlichen Forschung, die sich mit Menschheitsverbrechen beschäftigen - anerkannt, dass die Ereignisse 1915/16 ein Genozid sind.

Brink: Warum kann denn ein souveräner Staat wie die Türkei mit einem durchaus ausgeprägten Selbstbewusstsein, sich nicht der eigenen Vergangenheit annehmen, um diesen Begriff einfach zu diskutieren, oder überhaupt nur zuzulassen?

Brehl: Das hat durchaus mit dem zu tun, was ich gerade gesagt habe: Es gehört wirklich in das Selbstverständnis der Türkei, der modernen Nation Türkei - einer starken und auch reinen Nation - dass dieser Makel eigentlich nicht in dieses Geschichtsbild integriert werden kann. Seit 90 Jahren ist die Türkei, die offizielle Seite der Türkei und die offizielle Geschichtsschreibung der Türkei, damit beschäftigt, gerade eigentlich die Integration dieses Momentes der eigenen Geschichte abzuwehren. Nichts anderes ist dieser Komplex, man muss sagen Leugnungsdiskurs, der Gültigkeit innerhalb der Türkei hat und auch bei türkischen Organisationen im Ausland, ohne weiter hinterfragt zu werden.

Es werden Argumente abgespult, die gar nicht reflektiert werden, Argumente wie zum Beispiel, es seien nur militärisch notwendige Maßnahmen gewesen. Das haben die Jungtürken ja selbst schon zur Deckung ihrer Maßnahmen 1915/16 verkündet. Es seien nur Deportationen aus dem russischen Grenzgebiet vorgenommen worden, was schlicht einfach nicht stimmt. Es sind Deportationen der Armenier aus Thrakien - das ist heute Griechenland teilweise und noch ein Teil der Türkei, das ist der europäische Teil der Türkei - sind Deportationen vorgenommen worden. An der Westküste Smirna und so weiter sind Deportationen vorgenommen worden. Die gesamte armenische Bevölkerung in der Türkei ist in Bewegung gesetzt worden mit der Ausnahme von Konstantinopel, weil man dort fürchtete aufgrund der internationalen Vertretungen könnte es vielleicht doch zu sehr in den öffentlichen Augenschein geraten.

Brink: In wie weit hängt denn die Leugnung des Genozid mit dem gewünschten EU-Beitritt der Türkei zusammen? Gibt es da einen Zusammenhang?

Brehl: Er hängt natürlich damit zusammen, ob der Völkermord geleugnet wird, um in die EU zu kommen. Das ist eine andere Frage, das ist ja eigentlich eher das Problem. Es ist ein Problem. Der geleugnete Völkermord ist ein Problem für die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Das hat was mit dem europäischen Selbstverständnis nach 1945 zu tun. Die Europäische Union gründet ja mit auf der Erfahrung des Holocaust, eines Völkermords in der Mitte Europas und gründet auch auf dem Versprechen eines "Nie wieder!", eine solche Sache nie wieder möglich werden zu lassen und es gründet auch darauf, die Leugnung von Völkermord nicht zu akzeptieren.

Brink: Das ist ja zum Beispiel eine paradoxe Konstellation, wenn man sich das anguckt. Dass in der Türkei das Bekenntnis zum Völkermord an den Armeniern unter Strafe gestellt wird, das haben wir ja gesehen bei dem Prozess gegen Orham Parmuk, dem Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, während ja gerade in Deutschland die Leugnung des Judenmordes strafbar ist. Das ist ja irgendwie paradox.

Brehl: Das ist paradox und es ist eigentlich eine Aporie, die sich auch nicht auflösen lässt, außer wenn die Türkei wirklich diesen Schritt geht, sich der eigenen Geschichte - zu ihrem eigenen Guten muss man sagen - zu stellen. Es ist ja auch eine Last für die Türkei, diese ewige Leugnung aufrecht zu erhalten, entgegen jeder Vernunft eigentlich. Es ist auch ein Prüfstand für Europa, ob die Europäer da selbst auch zu ihren eigenen Grundsätzen stehen. Man muss auch daran denken, dass das EU-Parlament 1987/88 immerhin eine Resolution verabschiedet hat, in der die Türkei dazu aufgefordert wird, diesen Völkermord als Tatbestand anzuerkennen und das auch als Grundlage für Verhandlungen für einen Beitritt mit der Türkei zur Europäischen Union eigentlich festgelegt worden ist.

Brink: Sie haben erwähnt, dass diese Leugnung des Genozides ja breit gestreut ist in der türkischen Gesellschaft, in der türkischen Regierung, in vielen türkischen Organisationen. Wie sieht es denn in Deutschland aus? Wie verhalten sich denn die in Deutschland lebenden Türken zu diesem heiklen Thema?

Brehl: Das unterscheidet sich nicht grundsätzlich. Wenn man beispielsweise die türkische Presse in der Bundesrepublik, sich anschaut, Hürriyet beispielsweise, findet man genau diese Leugnungsargumente vertreten und auch bei der türkischen Bevölkerung in der Bundesrepublik, bei unseren türkischen Mitbürgern verbreitet. Wenn Veranstaltungen zum Völkermord an den Armeniern stattfinden in Deutschland, können diese nie stattfinden, ohne dass sie gestört werden von türkischen Teilnehmern, aktiv gestört werden. Man braucht nur an diese Brandenburg-Geschichte zu denken zu Beginn des Jahres 2004, als das Land Brandenburg entschieden hat, Völkermord als Thema in den Schulunterricht aufzunehmen und dabei auch den Völkermord an den Armeniern zu thematisieren, gab es ja ein großes Presseecho in der türkischen Presse, die sich sehr stark dagegen ausgesprochen hat. Es gab Interventionen auf diplomatischer Ebene. Das unterscheidet sich nicht deutlich.

Brink: Vielen Dank Medardus Brehl, er ist Historiker am Institut für Diaspora und Genozidforschung an der Ruhruniversität Bochum und wir sprachen mit ihm über den Völkermord an den Armeniern, ein Tabu-Thema in der Türkei.
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