Gene und ihre Namen

Die Fruchtfliege macht Karriere

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Extreme Nahaufnahme einer Fluchtfliege.
Die Fluchtfliege dient auch der Forschung und das hat Namen wie das "indy"-Gen oder das "Dirigenten"-Gen hervorgebracht. © imago images/blickwinkel
Von Kathrin Baumhöfer · 04.06.2020
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Sie heißen „Miranda“, „Toll“ oder „white“ – gemeint sind Gene. Ausgerechnet die Fruchtfliege hat es in die Genforschung geschafft. Warum und welche Bedeutung das auch für den Menschen hat, diesen Fragen ist unsere Autorin nachgegangen.
Der Blechmann aus dem "Zauberer von Oz" hat ein Problem. Er hat kein Herz. In seinem Fall liegt das daran, dass der Klempner in diesem Märchen vergaß, ihm eins einzubauen. Und der Blechmann vermisst es sehr. Embryologen kennen dieses Phänomen aus dem Labor. Beschrieben wurde es Anfang der 1990er-Jahre von Forschern aus Michigan in der Fachzeitschrift "Development":
Die Forschenden hatten in ihren Experimenten mit Fruchtfliegen der Art Drosophila melanogaster – das sind die Fliegen, die man etwa an überreifen Bananen oder im fast leeren Rotweinglas findet – ein Gen identifiziert, das unentbehrlich ist für die Entwicklung des Herzens. Im Fall der Fliegen handelt es sich dabei allerdings eher um eine Art Schlauch, der die Hämolymphe, die bei den Fliegen unserem Blut entspricht, durch den Körper pumpt. Fliegenmutanten ohne das Gen fehlte das Herz. Das gab dem Gen seinen Namen.
Die Fruchtfliege ist in der Forschung beliebt, sie lässt sich leicht halten und billig füttern. Darüber hinaus hat sie Besonderheiten, die zunächst die Genetiker interessierten, erzählt Siegfried Roth vom Institut der Zoologie der Universität zu Köln:
"Insbesondere gibt es bei Fliegen dieser Gruppe die sogenannten Riesenchromosomen, in den Speicheldrüsen sind die, die man im Mikroskop sehr gut sehen konnte. Da konnte man zum ersten Mal sehen, wo Gene eigentlich auf den Chromosomen liegen. Und deshalb war Drosophila zunächst mal ein Modellorganismus, um basale genetische Mechanismen aufzuklären."


Später entdeckten dann die Entwicklungsbiologen das Insekt für sich.
"Die Larve schlüpft schon nach einem Tag, der Embryo entwickelt sich eben sehr, sehr schnell. Schon nach wenigen Stunden sind sehr, sehr wichtige Entwicklungsentscheidungen gefallen, nach dem Ablegen des befruchteten Eis. Insbesondere hat sich herausgestellt, dass die Larve, die da schlüpft, dass man die sehr leicht präparieren kann und sehr leicht Abweichungen vom Wildtypmuster erkennen kann, die durch Entwicklungsstörungen eintreten und dass man die sehr gut klassifizieren kann."
Eine Lichtmikroskopische Aufnahme eines sogenannte Riesenchromosomen einer Fluchtfliege.
Eine Lichtmikroskopische Aufnahme eines sogenannten Riesenchromosoms einer Fluchtfliege.© imago images / Science Photo Library

Mutationen erzeugen und die Auswirkungen beobachten

Das geschieht, bei Drosophila wie bei anderen Modellorganismen, durch sogenannte Mutagenese-Experimente. Das Prinzip: Man erzeugt Mutationen und beobachtet, welche Auswirkungen etwa der Verlust eines Gens auf die Entwicklung und das äußere Erscheinungsbild hat. Wie sich also die Mutanten vom Wildtyp unterscheidet. Diese Mutagenese-Experimente lösten unter Entwicklungsbiologen eine wahre Goldgräberstimmung aus: Hunderte Gene wurden bei solchen Versuchen gleichzeitig entdeckt, ihre Funktion sollte aufgeklärt werden – und sie brauchten Namen. Dabei entschied man meist nach Erscheinungsbild der Mutante, erklärt Siegfried Roth:
"Die erste Mutante, die benannt wurde, das ist die sogenannte white-Mutante, die hat weiße Augen… Das Gen wurde dann auch so genannt, white. Aber es ist eigentlich der Name, der bezeichnet eigentlich den Ausfall des Gens. Das Gen ist nicht da, um weiße Augen zu machen, sondern eigentlich, um rote Augen zu machen. Man hat also immer versucht, das Gen zu benennen nach dem, was auftritt, wenn das Gen mutiert ist."

Ein Konzert von Molekülen

Das führt immer dann zu Problemen, wenn es um Prozesse geht, bei denen sehr viele Komponenten eine Rolle spielen – und das ist in der Entwicklungsbiologie von Drosophila eher die Regel als die Ausnahme. In den sehr entscheidenden Phasen hat man es mit einem Konzert von Molekülen zu tun, deren Zusammenspiel etwa bestimmt, wo später der Kopf und wo der Rumpf der Fliege sein wird, wo die Flügel entstehen und wo das Herz. Tinman etwa ist einer der Dirigenten in diesem Szenario.
Das Gen kontrolliert eine ganze Gruppe von nachgeschalteten Genen und kann dafür sorgen, dass sie nicht oder besonders häufig abgelesen werden. Fällt einer dieser molekularen Musiker aus, ist das beim Embryo oft nicht leicht zu unterscheiden, sagt Siegfried Roth:

"Ein berühmter Fall, das sind die Gene, bei denen die dorso-ventral… also die Rücken-Bauch-Achse betroffen wird; die führen alle, wenn die fehlen, zu einem Phänotyp, wo der Embryo dann so ein bisschen aussieht wie eine lange Nudel oder relativ wie eine Schlange, und dann hat man eben die Wörter twist, snail, snake, noodle, pipe, windbeutel alle benutzt, die irgendwie eine ähnliche phänotypische Assoziation haben. Man kann also fast ein ganzes Essen zusammenstellen mit diesen Namen, weil man eben immer wieder versuchte, etwas zu finden, was da reinpasst, um diesen Phänotyp zu beschreiben."

Das "Dirigenten"-Gen und die Eiweiß-Bauanleitung

Die Forschenden wurden kreativ. Auch das Labor von Chris Doe hatte ein solches "Dirigenten"-Gen entdeckt: Es enthielt die Bauanleitung für ein Eiweiß, das während der Entwicklung des Nervensystems der Fliegen andere Gene an- und abschalten kann und sie so kontrolliert. Das sollte sich auch im Namen widerspiegeln, fand Doe:
"Ich war auf der Suche nach einem Namen, der etwas von der Funktion und dem Einfluss auf das Zellschicksal wiederspiegelt, aber ohne Erfolg. Eines Abends aber gab meine Frau – sie ist Professorin für englische Literatur – eine Dinnerparty, und ich fragte die Tischgesellschaft, was ein guter Name für ein Gen wäre, das das Schicksal steuert. Ihnen fiel der wunderbare Name Prospero ein, der Zauberer aus Shakespeares "Der Sturm", der das Schicksal aller Figuren um ihn herum bestimmt."
Aber sowohl Shakespeare als auch Drosophila haben noch mehr zu bieten.
"Ein paar Jahre später entdeckte unser Labor eine andere Mutation mit einer ähnlichen Funktion. Das Gen produzierte ein Protein, das an Prospero bindet – also nannten wir es Miranda, auch eine Figur aus dem ´Sturm`. Später fand Mark Mortin vom NIH noch ein weiteres Protein, das an Prospero bindet und nannte es Caliban. Eigentlich müssen wie nur noch Ariel finden, dann ist der ´Sturm` komplett!"
Die Autorinnen und Autoren der Studie, die im Jahr 2000 im Fachmagazin Science erschien, fühlten sich dagegen bei ihren Beobachtungen an eine Filmszene erinnert.
Erdacht von der britischen Komikertruppe Monty Python. Sie hatten ein Gen beschrieben, das in ihren Versuchsreihen Einfluss auf die Lebensdauer der Fruchtfliegen hatte. Mutanten lebten für etwa 70 Tage – beinahe doppelt so lang wie ihre Wildtyp-Artgenossen. Die Forschenden nannten das Gen indy – ein Akronym, das sich zusammensetzt aus den Worten "I’m not dead yet" – "Ich bin noch nicht tot."

Drosophila-Forschung ist auch für den Menschen interessant

Andere Erkenntnisse aus der Drosophila-Forschung lassen sich auf Wirbeltiere, manche sogar auf den Menschen übertragen. Es gibt Entwicklungsprozesse, die von der Fliege bis zum Menschen gleich sind, die aber an der Fliege wesentlich einfacher erforscht werden können.
So kann man aus Wundheilungsversuchen an Fliegenlarven direkte Rückschlüsse ziehen auf dieselben Mechanismen beim Menschen – auch für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war das eine Überraschung. Der Entwicklungsbiologe Siegfried Roth kennt ein weiteres Beispiel aus dem Labor von Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus, die für ihre Forschungen 1995 den Nobelpreis bekamen:
"Eine meiner Lieblingsgeschichten in dem Zusammenhang ist ein Gen, das heißt toll. Und das war eigentlich mehr so etwas, was sie nebenbei entdeckt haben, sie hatten sich damals noch nicht so richtig für diese Gruppe von Genen interessiert, aber sie haben den Phänotyp gesehen, und der war irgendwie besonders aufregend. Und in einem bestimmten Zusammenhang haben sie gesagt: Ach, das ist ja toll, nennen wir das einfach mal – Toll."
Das Gen machte Karriere.
"Später hat man gesehen, dass dieses Gen etwas mit dieser angeborenen Immunität zu tun hat bei den Fliegen. Und interessanterweise ist dieser Prozess der angeborenen Immunität sehr stark konserviert, und auch bei Säugetieren sind es die gleichen Komponenten, die bakterielle und Pilzabwehr auch bei uns vermitteln, und das sind die gleichen sogenannten Toll-Rezeptoren und diese ganze Familie, die heißen jetzt Toll-Rezeptoren beim Menschen und sind extrem wichtig."
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