Gender Data Gap in der Medizin

Männer als Standard

13:09 Minuten
Zwei Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin Rollen Pillen über eine Bahn.
In der Medizin werden oft vor allem Männerkörper erforscht - sie gelten als Standard, obwohl Frauen eine andere Medizin brauchen. © imago images / Ikon Images
Vera Regitz-Zagrosek im Gespräch mit Katja Bigalke · 22.08.2020
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Die Zahl der Herzinfarkte bei Frauen ist fast genauso hoch wie bei Männern. Trotzdem stehen Letztere im Mittelpunkt der Erforschung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Und das ist nur ein Bereich von vielen. Der Gender Data Gap hat enorme Folgen.
Der männliche Körper wird in der medizinischen Forschung meist als Standard angesehen. Dieses Phänomen wird als Gender Data Gap bezeichnet. Vera Regitz-Zagrosek, Professorin für Geschlechtermedizin und ehemalige Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité, sieht darin "ein ganz enormes Problem."
Das zeige sich zum Beispiel im Bereich der Herzkreislauferkrankungen. Die Zahl der Herzinfarkte bei Frauen sei fast genauso hoch wie bei Männern, und sie würden sogar häufiger an Herzschwäche leiden. Doch manche Formen, an denen vorwiegend Frauen litten, würden kaum erforscht.
"Das Broken-Heart-Syndrom, das 90 Prozent Frauen betrifft, wird überhaupt nicht adäquat in der Therapie der Herzerkrankungen diskutiert", sagt Regitz-Zagrosek. Zudem würden Untersuchungen zu dieser Erkrankung an männlichen Ratten durchgeführt. "Das ist eine echte Katastrophe", so die Forscherin.

70 Prozent der Tierversuche an männlichen Tieren

Studien zeigten, dass 70 Prozent der Tierversuche auch heute noch an männlichen Ratten vorgenommen würden, 10 Prozent nur an weiblichen Tieren, 10 bis 20 Prozent an Tieren beiderlei Geschlechts und in 10 Prozent der Fälle sei das Geschlecht der Versuchstiere unbekannt.
"Aber, und das ist der eigentliche Skandal: Die Arzneimittel, die unter Ausklammern der weiblichen Tiere entwickelt werden, die Substanzen werden munter an Frauen mit Zyklus eingesetzt", sagt Regitz-Zagrosek. Ein drastisches Beispiel habe es bei Gerinnungshemmern gegeben. Darf eine Frau mit Herzinfarkt einen Gerinnungshemmer bekommen, wenn sie ihre Tage hat? Bei Markteinführung dieser neuen und für die Therapie äußerst wichtigen Medikamente wusste man es nicht. Denn sie wurden nur mit männlichen Probanden getestet.

Geschlechtersensiblerer Blick durch Covid-19

Vera Regitz-Zagrosek ist Autorin des Buchs "Gendermedizin. Warum Frauen eine andere Medizin brauchen". "Wir meinen aber nicht, dass die andere Medizin jetzt von Frauen- und von Männerärzten kommuniziert oder angewendet werden muss", erklärt die Professorin. Es gehe um das Wissen um die Unterschiede beispielsweise in Bezug auf die Hormone oder die Normalwerte für Blutwerte und Sauerstoffträger im Blut.
"Wir wollen also nicht eine unterschiedliche Medizin oder Ärzte für Männern und Frauen, sondern dass alle Ärzte wissen und das im Studium lernen, dass es bei Frauen und Männern Unterschiede, aber natürlich auch viele Gemeinsamkeiten gibt."
Und doch: Es tue sich etwas mit neuen Studiengängen für Gendermedizin in der Schweiz. Zudem habe die Tatsache, dass Männer größere Probleme mit Covid-19 zu haben scheinen, zu einer größeren Beachtung von Geschlechterunterschieden geführt, meint Regitz-Zagrosek. "Ich glaube, wir werden anhand von Covid-19 auch lernen, dass ein geschlechtersensibler Blick auf Gesundheit und Krankheit wichtig ist."
(cwu)
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