Gemütvoller Knigge

22.07.2013
Mit "Deutsche Tugenden" widmet sich Asfa-Wossen Asserate den angeblich typischen Gepflogenheiten hierzulande. In 22 alphabetisch sortierten Kapiteln springt der äthiopisch-deutsche Historiker zwischen den Zeiten hin und her - ein unverkrampfter Blick aus "Sicht eines Zugereisten".
Soviel Unbekümmertheit hätte man dem äthiopischen Prinzen gar nicht zugetraut: Auf dem Umschlagbild seines neuen Buches lagert der von Tischbein gemalte Goethe nicht auf klassischen Ruinen. Der Italienreisende reitet auf dem Rücken eines Kurzhaardackels, im Damensitz. Ausgerechnet Goethe, der für Asfa-Wossen Asserate zu den Säulenheiligen der deutschen Geistesgeschichte zählt. Seit 40 Jahren in Deutschland lebend, hat der promovierte Historiker vor zehn Jahren mit "Manieren" einen Bestseller geschrieben, in dem es um die Vorzüge von Höflichkeit und Respekt als soziales Bindemittel ging.

Jetzt legt der Unternehmensberater mit deutscher Staatsbürgerschaft ein Plädoyer für die Tugenden vor, die man hierzulande nicht durchweg als positiv ansieht, Ordnungsliebe, Pflichtgefühl, "Treu und Redlichkeit" etwa. Seine Absicht ist es, "aus der Sicht eines Zugereisten", die Deutschen mit ihren angeblich typischen Gepflogenheiten zu versöhnen.

In 22 alphabetisch sortierten Kapiteln listet er neben Tugenden auch Facetten bürgerlicher Alltagsmoral wie Sparsamkeit und Bescheidenheit auf. Daneben finden besondere Eigenschaften Platz: die Musikalität, der Weltschmerz und Erfindergeist. Natürlich darf der Fleiß nicht fehlen. Aber stimmt es eigentlich, dass wir emsiger sind als andere? Zwar singen die Brüder Grimm ein Loblied auf die tüchtigen Mädels der Frau Holle, das, wie Asserate süffisant anmerkt, bis heute seine zuverlässige Wiederkehr in der schwäbischen Kehrwoche findet. Doch den Damen der Romantik galt der Fleiß als "philisterhaft" und Büchners "Leonce und Lena" sind lieber faul als arbeitsam.

Asserate beobachtet, wie die Tugenden, die zum Teil natürlich universal sind, in ihr Gegenteil kippen, wenn sie zum Dogma werden wie die Sparsamkeit in Form der "Geiz ist geil"-Parole. Oder die Gleichgültigkeit, die sich als Toleranz tarnt. Gerne nehmen wir hingegen die Freiheitsliebe an, die Zivilcourage auch, mit Sophie Scholl oder dem 9. November 1989. Aber dass wir besonders anmutig sein sollen, überrascht wirklich. Da gerät der "Knigge des Orients" in erhebliche Beweisnot. Außer der lieblichen Königin Luise und Werthers schwarzbrotschneidender Lotte fallen ihm wenige Kronzeugen ein. Auch zum Humor ist die Lage dünn. Dafür stehen nur Berliner Busfahrer ein, Ringelnatz oder Robert Gernhardt.

Historische und antiquierte Anekdoten
Asserate hat ein Faible für Antiquiertes. Seine anekdotischen Ausflüge in die Geschichte lassen auch die größten Peinlichkeiten akzeptabel erscheinen. Der Deutschen Hang zur Vereinsmeierei, zum Stammtischleben etwa. Die sieht er als subversive Antwort darauf, dass im Biedermeier jede politische Regung mundtot gemacht wurde. Aber er verschweigt auch nicht, wie Tugenden pervertiert wurden. Bei der "Reinlichkeit" denkt er an die rassistische Wahnidee von der Reinheit des Blutes, selbst deutsche Naturverbundenheit habe seit dem Nationalsozialismus eine prekäre Seite.

Zwischen den Jahrhunderten hin- und herspringend, mit Goethe- und Kant-Sentenzen oder schnurrigen Oktoberfest-Anekdoten bewaffnet, findet er zwar nicht alles gut am "deutschen Wesen". Aber wie ein geduldiger Therapeut auf seinen, unter dauerhaften Selbstzweifeln leidenden Patienten schaut er mit unverkrampftem Blick auf das heutige Deutschland. Wenig zeitgeistig, dafür altväterlich, wohlwollend und sehr gemütvoll.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Asfa-Wossen Asserate: Deutsche Tugenden
Verlag C.H.Beck, München 2013
240 Seiten, 17,95 Euro
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