Gemeindeaufbau in den neuen Bundesländern

Von Ita Niehaus · 24.11.2007
Sinkende Mitgliederzahlen, schwindende Einnahmen - keine einfachen Zeiten für die Evangelische Kirche. Beispiel Sachsen Anhalt: In Städten wie Magdeburg und Thale ist noch nicht einmal jeder zehnte Mitglied in einer christlichen Kirche. Wie kann Kirche wieder wachsen, wieder attraktiver werden für die Menschen? Und welche Rolle spielt dabei das Gemeindeleben?
Die St. Andreas Kirche in Thale im östlichen Harzvorland. Die Glocken läuten zum Erntedankgottesdienst - nicht per Knopfdruck setzen sie sich in Bewegung, hier ist noch Handarbeit gefragt. Heute zieht die 39 Jahre alte Verkäuferin Silke Försterling am Glocken- seil - ehrenamtlich.

"Wie kriegen Sie das hin?" - "Einfach ziehen, es macht Spaß!"

Kurz vor dem Gottesdienst probt noch einmal der Posaunenchor im Gemeindehaus und in der St. Andreas Kirche spricht Kirchenmusikerin Christine Kunze mit Katharina, Emily und den anderen Kindern das Singspiel durch.

" Pass auf ... so. Ein Schläger ... nicht genug."

Zehn Minuten später: Der Gottesdienst in der festlich geschmückten Kirche hat begonnen Ursula Meckel sitzt vor dem Altar im Bläserchor und spielt das Waldhorn. Kurz darauf hält sie die Predigt.

Von der Musikerin zur Pastorin - Ursula Meckel erfüllt viele Aufgaben in der kleinen Gemeinde. Rund siebzig Gemeindemitglieder sind gekommen. Und wie immer haben viele von ihnen mitgeholfen, den Gottesdienst vorzubereiten.

Meckel: " So ein Gottesdienst wie heute trägt uns erst einmal eine Weile durch, das war ein so positives Erlebnis, da waren 20, 25 Beteiligte, wenn nicht noch mehr. Und wenn du was mitgemacht hast, hast du auch eine andere Beziehung dazu."

Seit über 30 Jahren ist Ursula Meckel Pfarrerin in Thale. Rund 13.000 Einwohner hat die Harzgemeinde, 1990 waren es noch 18.000. Jeder fünfte in Thale ist arbeitslos. In der alten Industriestadt ist es selbstverständlich, sonntags nicht in die Kirche zu gehen. Nur acht Prozent bekennen sich zum evangelischen Glauben. Umso wichtiger ist für die wenigen Mitglieder das Gemeindeleben.

Umfrage: "Der Gedankenaustausch über den Glauben mit anderen Christen. Wir haben jeden Donnerstag einen Gebetskreis und das ist eine super Sache. Die Gemeinschaft, die ist schon was sehr Entscheidende. Wo man sich gegenseitig unterstützt, das hat ein Lebensgefühl, was in unserer Gesellschaft schon ein bisschen verloren geht.

Zusammenhalt, Zusammenleben, gegenseitig helfen, mit die Kinder aufbauen, dass sie den richtigen Weg finden. Man hat Freunde, man ist nicht alleine und die Basis dieser Freundschaft ist der Glaube. Dass gemeinschaftlich alles bewältigt wird, egal was es ist, ob Ordnung in der Kirche oder der Garten in Ordnung zu halten ist- ich finde, wichtig ist, das jeder mit zu packt."

Telefonklingeln: "Ursula Meckel, evangelisches Pfarramt, guten Tag."

Es ist nicht ganz leicht, Ursula Meckel am Telefon zu erreichen. Denn oft ist sie unterwegs. Sie ist nämlich nicht nur Pfarrerin in der St Andreas Gemeinde, sondern auch in der St Petri-Gemeinde und der St. Georg-Gemeinde im Ortsteil Warnstedt. Viele kleine Gemeinden können sich einen hauptamtlichen Pfarrer nicht mehr leisten.

"Was darunter am meisten leidet, sind die sogenannten weichen Teile der Gemeindearbeit, also Besuche machen, um sich kundig zu machen, wie geht´s, wo gibt's Probleme. Das ist sehr schade, weil da eine Menge an Wärme, die ja zu einer Gemeinde dazu gehört, verloren geht."

Auch die Kirchenmusikerin hat nur eine 40-Prozent-Stelle, die Katechetin eine 10-Prozent-Stelle, hinzukommen eine Bürokauffrau für sechs Stunden die Woche und drei Ein-Euro-Jobber. Ohne die zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter ginge hier fast nichts mehr. Ob Küster, Lektor oder Verwaltungsarbeit - alles ist fest in ehrenamtlicher Hand.

"Solange wie wir ausreichend hauptamtliche Mitarbeiter hatten, war es ja immer gut zu sagen, die macht das schon. Also für den Kindergottesdienst ist eben der Pfarrer verantwortlich. Ja nun schafft er es aber nicht mehr und siehe da, es gibt andere, die das können. So ist das ja auch bei anderen Dingen. Und mit dem Bewusstsein, es passiert nur soviel in der Gemeinde, wie ich mich auch einbringe."

Die kirchen- und glaubensfeindliche Politik des SED Regimes hat tiefe Spuren hinterlassen in den neuen Bundesländern. Viele Menschen wissen gar nicht mehr, was Kirche ist:

"Ich erlebe es immer wieder, dass Leute um die 50 herum sagen, oh, ich wohne hier schon immer in Thale, ich würde ja gerne in Kirche rein gehen, ich war da noch nie drin da ist so was hängen geblieben, Kirche, das macht man nicht oder auch eine Scheu. Es ist eine Fremdheit auch über kirchliche Begriffe, was ist ne Sakristei, was ist der Altar, ach so ja."

Reinhard Höppner: "Es hat Spuren hinterlassen beispielsweise im Blick auf die jungen Leute, wenn man daran denkt, dass nicht mehr Leute zur Konfirmation gehen, als das zu DDR Zeiten war. Das hat auch Spuren in der Kirche hinterlassen, die ja zu DDR Zeiten und auch in der Wende ausgesprochen wichtig gewesen ist als gesellschaftspolitische Kraft und auf diesem Gebiet heute kaum noch eine wirkliche Rolle spielt und insofern müssen wir uns erst zurechtfinden, das ist nicht ganz leicht."

Reinhard Höppner, der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen -Anhalt und Kirchentagspräsident 2007 war auch schon in der DDR in der evangelischen Kirche engagiert. Heute lebt er mit seiner Frau, Pastorin Renate Höppner, im Pfarrhaus neben der Kreuzkirche in Magdeburg.

Die kleine schlichte Stadtrandkirche in der alten Junkerssiedlung wurde aus Trümmersteinen des zerbombten Magdeburgs gebaut. 1954, in der stalinistischen Nachkriegszeit, war das damals für viele Christen ein Zeichen von Aufbruch. In der Wendezeit fanden hier - wie in vielen anderen Kirchen der DDR - Gesprächskreise und Friedensgebete statt. Heute hat die Gemeinde nicht ganz tausend Mitglieder, 40 von ihnen kommen regelmäßig sonntags zum Gottesdienst.

Renate Höppner singt mit im Kreuzchor. Seit 21 Jahren ist sie Pfarrerin in der Kreuzkirchengemeinde in Magdeburg. Ihre Motivation: Sie ist überzeugt von der Botschaft Christi und will sie weitergeben. Beim Gottesdienst im Altenheim, im Konfirmanden- unterricht oder im Glaubensseminar für Erwachsene. Im Laufe der Jahre hat Renate Höppner gelernt, damit zu leben, dass Kirche in Magdeburg, wie überall in den neuen Bundesländern, eine Minderheit ist.

"Wenn ich die Leute im Supermarkt getroffen habe, haben wir uns nett unterhalten, aber ich wäre nie im Traum auf die Idee gekommen, zu sagen, wann sehe ich Sie denn sonntags mal wieder? Da bin ich viel frecher geworden. Und ich merke, viele Leute, die freuen sich auch darüber, und ich ärgere mich nachträglich, dass ich so alt werden musste, ehe ich den Mut hatte, das freundlich zu sagen. Und da merke ich, da geht es mir besser damit."

Der Reformdruck lastet stark auf den kleineren und ärmeren Kirchen - vor allem in den neuen Bundesländern. Was tun? Immer mehr Aufgaben den ehrenamtlichen Mitarbeitern überlassen? Die Strukturen straffen? Sollen Landeskirchen fusionieren? Und: Wie weit können und sollen Zusammenarbeit und Vernetzung gehen, um Kosten einzusparen?

"Die Menschen wollen vor Ort jemanden haben. Ich halte es für ganz gefährlich, wenn Kirche sich grundsätzlich aus der Fläche zurückzieht. Ich denke, dass wir nicht mehr alles haben können, aber nur noch zwölf Leuchttürme in Deutschland, fände ich eine ganz furchtbare Vorstellung. Wenn es keine Stadtrandgemeinden mehr gibt, das wäre eine richtige Tragik."

Reinhard Höppner: "Insofern halte ich die Versuche, Wirtschaftsberater zu holen, um zu überlegen, wie Kirche effektiv sein kann, für völlig falsch. Wir produzieren nix. Die Kirche sind eigentlich die Menschen, die Menschen, die überzeugend leben, die gewissermaßen mit ihrer Freundlichkeit, mit ihrem Glauben ansteckend wirken.

Und überall, wo Personal reduziert wird, und nicht gleichzeitig vielleicht dann auch Ehrenamtliche das können, geht einfach ein Stück von der Botschaft verloren. Durch Organisation kriegt man das nicht hin. Diese ansteckende Ausstrahlung unserer Christen ist eigentlich unser Fundus."

Wichtig bei der Debatte um die Zukunft der Kirche ist Renate Höppner vor allem eines: eine lebendige Streitkultur

"Ich habe jetzt oft das Gefühl, dass es wesentlich schwerer geworden ist, sich fair zu streiten. Es ist jetzt in unserer Kirche so gewesen bei der Vereinigung mit der Thüringer Kirche, dass da ein nicht erfreuliches Ergebnis rauskam für viele.

Aber es wird nicht ausgehalten. Und ich vermute mal, die Diskussion wird so lange geführt, bis das gewünschte Ergebnis rauskommt. Ob das dann der gute Weg für unsere Kirche ist, wird die Zukunft zeigen."

Auch die Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinden in Thale setzen sich mit der Frage auseinander, wie Kirche wieder wachsen kann.

Umfrage: "Die Konzentration auf den eigentlichen Glauben, dass man den Anker wieder sieht und die Chancen, die einem durch ein Leben im Glauben ermöglicht werden. Mal ein bisschen was Anderes bringen, vielleicht auch mal was neu gestalten in Gebeten, nicht immer das Althergebrachte. Wenn man von diesen ganz festen kirchlichen Strukturen los lässt.

Und dieses Engagement, ob nun für Kinder- oder Jugendarbeit oder Altenarbeit- das sind die Punkte, wo Kirche gut punkten kann und wo sie gebraucht wird. Noch mehr auf die Menschen zugehen, offen sein, denn die Leute sehnen sich eigentlich nach Austausch."

Ursula Meckel verfolgt die kircheninterne Debatte auch genau. Die Diskussion um Fusionen und weitere Zusammenschlüsse von Kirchengemeinden sieht die Pastorin mit gemischten Gefühlen.

"”Wenn es so weiter geht, dass man einfach einen größeren Arbeitsbereich kriegt, dann nimmst du das Dorf dazu, bedeutet das, ich mache alles das, was ich vorher gemacht habe, nur schlechte, weil ich es ja nicht mehr gut vorbereiten kann."

Ursula Meckel versucht stattdessen, Kirche anders zu gestalten - mit einem Gottesdienst etwa, draußen in der Natur bei der Hubertusquelle. Gute Erfahrungen hat sie auch mit Kooperationen gemacht Die Konfirmanden der Region werden beispielsweise gemeinsam betreut.

""Das sind die Quedlinburger, die Thalenser und einige umliegende Ortschaften. Damit kommen wir auf gut 40 Konfirmanden. Da sind auch entsprechend Mitarbeiter, das macht auch Spaß, das ist auch ein Gemeinschaftserlebnis. Als wenn sich da ein Pfarrer mit drei oder fünf Jugendlichen hinsetzt."

Ursula Meckel und Renate Höppner setzen vor allem auf ein lebendiges Gemeindeleben und tatkräftige ehrenamtliche Unterstützung. Und so zeigen die beiden. Pastorinnen und ihre engagierten Gemeindemitglieder einen Weg aus der Krise:

Meckel: "Zu sagen, wir machen das, was möglich ist und was notwendig ist, trotzdem mit Freude Oder wir holen uns auch Kräfte von woanders her, zum Beispiel die Beteiligung am Kirchentag.

Da kommst du mit so einer Begeisterung wieder und dem Bewusstsein, wir sind zwar in Thale nur so ein Häufchen, aber es gibt noch ganz andere und ganz andere Möglichkeiten. Und da siehst du auch immer was. Ey, was die da gemacht haben, das könnten wir ja auch probieren."

Und einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es darüber hinaus noch. Die Kirchen registrieren einen Anstieg bei den Erwachsenentaufen; der ist nicht sehr groß, aber immerhin. Zuversicht daher auch bei Renate Höppner.
"Wenn ich mal deprimiert bin, dann guck ich mir die Kirchenbücher an. Wie wenig Taufen es phasenweise gegeben hat und wie viele Taufen es zwischendurch gegeben hat und freue mich jetzt schon auf die nächste Taufe.

Also da vertraue ich einfach darauf, dass Gott es einfach ganz gut mit seiner Kirche meint, aber wir natürlich das Nötige tun müssen und da wünsche ich uns ganz viel Nüchternheit und ne gute Streitkultur, denn es geht nur in der Diskussion."