Gemäldegalerie Berlin

Aby Warburgs Gedankenwelten aus dem Bilderatlas

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Jörg Völlnagel steht in einer Ausstellung vor einer schwarzen Wand, im Hintergrund hängen Bilder, die im Dunklen zu leuchten scheinen.
Jörg Völlnagel hat die Ausstellung "Zwischen Kosmos und Pathos - Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne" kuratiert. © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
Jörg Völlnagel im Gespräch mit Axel Rahmlow  · 08.08.2020
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50 Werke aus dem Bilderatlas des deutsch-jüdischen Kunsthistorikers Aby Warburg zeigt die Gemäldegalerie Berlin. Der Kurator Jörg Völlnagel sagt, dass es Warburg damals schon gelungen sei, die Bildkultur unserer Welt aufzuzeigen.
Axel Rahmlow: Mnemosyne ist die griechische Göttin der Erinnerung, und so hat auch der deutsch-jüdische Kunsthistoriker Aby Warburg seinen Bilderatlas genannt, den er Ende der 1920er-Jahre zusammengestellt hat. Das sind fast 1000 Fotografien, und Anfang September sollen sie im Haus der Kulturen der Welt in Berlin erstmals seit 1929 wieder ausgestellt werden, also seit fast 100 Jahren.
Einen Vorgeschmack darauf gibt es schon ab heute, und zwar in der Schau "Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne" ist zu sehen in der Gemäldegalerie Berlin und kuratiert von Jörg Völlnagel. Was genau ist bei Ihnen zu sehen?
Völlnagel: Wir zeigen etwa 50 Werke aus den Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin, insgesamt zehn Sammlungen haben beigetragen zu dieser Ausstellung in der Gemäldegalerie. Das sind Werke, Originalwerke, die Aby Warburg als Vorlage für seinen Bilderatlas gedient haben, also Abbildungen dieser Werke finden sich im Bilderatlas.
Rahmlow: Und was genau sieht man darauf?
Völlnagel: Es sind ganz unterschiedliche Werke. Wir zeigen etwa großformatige Tafelbilder der florentinischen Renaissance – Botticelli, Ghirlandaio –, also etwas, was man in der Gemäldegalerie erwartet. Wir zeigen aber auch eine babylonische Bronzeglocke, 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die zur Abwehr von Dämonen dienen sollte, oder eine kleine bemalte Holzschachtel, die Warburg selbst Anfang des 20. Jahrhunderts in einem norwegischen Spielzeugladen gekauft hat. Es ist also ein großes Sammelsurium sehr unterschiedlicher Werke mit Motiven, die Warburg interessiert haben.
Der Mnemosyne Atlas im Lesesaal der Kunstwissenschaftlichen Bibliothek Warburg.
Fast 1000 Fotografien hat Aby Warburg für seinen Bilderatlas gesammelt, darunter auch Werbeprospekte oder Ausschnitte aus Katalogen.© Picture Alliance / Fine Art Images / Heritage Images
Rahmlow: Eine kleine bemalte Holzschachtel, warum war das für ihn interessant?
Völlnagel: Auf dieser kleinen Holzschachtel hat Warburg ein Motiv entdeckt, das er schon kannte aus der florentinischen Renaissance, aus dem 15. Jahrhundert in Italien. Dieses Motiv ist aber gleichzeitig auch im Norden aufgetaucht, in der Druckgrafik in Deutschland. Es ist eine biblische Geschichte eines Hosenkampfes, und für Warburg war das ein ideales Stück, um zu zeigen, dass Motive durch Zeit und Raum in verschiedenen Kulturen, in verschiedenen Jahrhunderten immer wieder auftauchen.
Es muss großartig für ihn gewesen sein, auf einer Norwegenreise in einem Spielzeugladen, sozusagen in der Volkskunst diese Box zu entdecken und diese Wanderstraße der Kultur, wie er das nannte, vollzogen zu sehen, indem eben das Motiv von Italien in den Norden bis nach Norwegen Anfang des 20. Jahrhunderts kam. Das hat ihn interessiert, und das ist das Grundprinzip des Atlas.

Die Briefmarke als Bilderfahrzeug

Rahmlow: Die Wanderstraße der Kultur, das ist ein sehr schöner Ausdruck. Der ist von ihm?
Völlnagel: Der ist von Aby Warburg. Er war sehr gut in dem Kreieren von speziellen Ausdrücken, er spricht auch zum Beispiel von Bilderfahrzeugen. Das ideale Bilderfahrzeug für ihn war eine Briefmarke, denn die Motive auf Briefmarken, die haben natürlich sehr viel mit Kunst und Kultur, mit unserem Bildervorrat zu tun aus Jahrhunderten, und die Briefmarke ist aber ein Alltagsgegenstand, der überall wieder auftaucht.
Insofern haben wir zum Beispiel auch Briefmarken in unserer Ausstellung, originale Briefmarken, mit einem Motiv, was Warburg aus der Antike kannte, das Motiv einer schreitenden Grazie, einer Nymphe, das in der florentinischen Renaissance oder in der italienischen Renaissance eine große Rolle spielt, aber auch als Gipsabguss, als antiker, der zum Beispiel bei Sigmund Freud über dem Sofa hing. Also das Verfolgen von Motiven und Ideen quer durch alle Kulturen und Gattungen hinweg, das war für ihn ein Bilderfahrzeug und eine Wanderstraße der Kultur.
Rahmlow: Warum waren ihm da gerade die Renaissance und die Antike so wichtig?
Völlnagel: Aby Warburg hat promoviert über Botticelli, die florentinische Renaissance, das war sozusagen sein Spezialgebiet, und die florentinische Renaissance ist nicht denkbar ohne die Antike. Das kennen wir natürlich auch in der Kunstgeschichte – die Wiedergeburt antiker Motive, antiker Ideen in der Kunst der frühen Neuzeit –, aber damit war es nicht vorbei.
Das war der Ausgangspunkt für Warburg, das hat ihn interessiert, aber er hat die Motive dann eben auch zum Beispiel in der Gebrauchsgrafik der 20er-Jahre wiedergefunden. Wir haben ein kleines Kochbuch in der Ausstellung, auf dem ein Motiv zu sehen ist, was man gleichzeitig auch in einem italienischen Gemälde sehen kann – die Briefmarke hatte ich schon erwähnt.
Es gibt sogar im Atlas ein Abbild oder eine Verzierung von Klopapier. Das Klopapier haben wir aber leider nicht in der Ausstellung, das ist nicht in unseren Sammlungen, da waren wir ganz streng, nur Werke aus unseren Sammlungen ist in diesem kleinen Reenactment des Atlas in Originalwerken zu sehen, aber für Warburg war auch das interessant.

Allgegenwart einer Bildkultur von Motiven

Rahmlow: Und was sagt uns das 100 Jahre später, Herr Völlnagel, warum ist das noch heute interessant für Sie?
Völlnagel: Zum einen hat Warburg etwas vorweggenommen, was uns heute sehr prägt, nämlich eine Allgegenwart einer Bildkultur von Motiven, die um uns herum sind und deren Wurzeln oder deren Entwicklungen wir kennen. Für Warburg gab es natürlich noch keine Google-Bildersuche. Wir können heute ein Stichwort eingeben, und dann haben wir eine Seite mit Bildbeziehungen, mit Motiven zum Thema. Das im Grunde genommen ist etwas, woran der Bildatlas fast erinnert.
Porträt von Aby Warburg.
In seiner Forschung beschäftigte sich der Kunsthistoriker Aby Warburg mit dem Nachleben der Antike in der abendländischen Kultur.© Picture Alliance / akg-images
Wenn man ihn durchblättert, hat man manchmal fast das Gefühl, es sieht aus wie eine Stichwortbildersuche. Auch Dinge wie Pinnwände oder Pinterest, um es in den digitalen Raum zu übertragen, also die Zusammenstellung von Motiven, von Bildern nach Stichworten oder sehr persönlichen Anschauungsweisen, das ist etwas, was sich im Atlas wiederfindet. Ihm ging es darum, die Bildkultur unserer Welt aufzuzeigen – die Beziehungen, die Zusammenhänge –, und ihm ging es auch um ein sehr experimentelles konstellatives Verfahren.
Man muss bedenken, dass der Bilderatlas von ihm nie publiziert werden konnte, es war eine Versuchsanordnung, es war ein Work in Progress. Er starb, bevor der Bilderatlas je abgeschlossen war, falls er überhaupt hätte abgeschlossen werden können. Wir sind auf den letzten Arbeitsstand angewiesen von Oktober 1929, aber da liegt auch genau das Relevante für unsere heutige Zeit: Man muss und man kann den Bilderatlas weiterdenken. Warburg hat es getan, indem er Druck- und Gebrauchsgrafik seiner Zeit einbezogen hat, wir können dasselbe heute für uns auch tun.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Die Ausstellung "Zwischen Kosmos und Pathos. Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne" ist in der Gemäldegalerie Berlin bis zum 1. November 2020 zu sehen.

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