Gelüste, Fantasien, Albträume

16.10.2012
Wer wagt sich noch in die Labyrinthe der Kafka-Philologie? Saul Friedländer, der vielgerühmte Historiker des Holocaust, hat nun ein Buch über das Prager Genie vorgelegt, ausgestattet gewissermaßen mit einem Empfehlungsschreiben: Die Friedländers entstammen ebenso dem Prager Judentum wie die – einst sogar lose mit ihnen bekannten – Kafkas.
Friedländer setzt zunächst die alte Schlacht gegen den literarischen Nachlassverwalter Max Brod fort, der Kafka zum "Heiligen" stilisiert habe. Dem setzt er die These entgegen, dass "die Probleme, die Kafka während des größten Teils seines Lebens peinigten, sexueller Natur waren". Genauer: Kafkas Schuldgefühle hingen zusammen mit "mit vorgestellten sexuellen Möglichkeiten".

Friedländer bietet Passagen aus den Werken, Briefen und Tagebüchern auf, um die Gelüste und Fantasien Kafkas kenntlich zu machen. Das beginnt mit "stark bekämpften homoerotische Strebungen". Dass die Abscheu und der "Schmutz", von denen die Heterosexualität bei Kafka oft gekennzeichnet sei, in den gelegentlichen Beschreibungen mann-männlichen Begehrens fehlt, kann allerdings auch damit zusammenhängen, dass es für Kafka schlicht keine praktikable Form des Eros war. Zwar nistet sich in die Beschreibung der Beamtenwelten in "Proceß" und "Schloss" eine verquere Sprache des Begehrens ein. Als Belege für unterdrückte homoerotische Begierden erscheinen diese immer auch grotesken Darstellungen jedoch überinterpretiert.

Auch der Anfangsverdacht pädophiler Neigungen läuft ins Leere. Belegstellen sind knapp und werden zudem tendenziös ausgelegt. "Die Gesellschaft kleiner Mädchen war anscheinend ebenso willkommen wie die kleiner Jungen", schreibt Friedländer, als wäre Kafka ein routinierter Bonbononkel gewesen. Dass er beim Schützenfest in Stapelburg mit sechs kleinen Mädchen Karussell fährt, klingt bei Lektüre des Reisetagebuchs viel harmloser als in Friedländers verknappter Darstellung. "Er war zu einer zweiten Runde bereit, aber die Mädchen wollten nicht mehr." Oho! Tatsächlich wollten sie mit Kafka ins "Zuckerzeugzelt".

Beunruhigender, allerdings auch bekannter sind Kafkas sadomasochistische Phantasien. Folterszenen kennzeichnen nicht nur Werke wie "Proceß" und "Strafkolonie", sondern auch die Tagebücher: das Zerfetzen, Zerschnibbeln, Zu-Tode-Schleifen des Kafka-Körpers. "Ja, das Foltern ist mir äußerst wichtig, ich beschäftige mich mit nichts anderem als Gefoltert-Werden und Foltern", schrieb er in einem Brief an Milena.

Kafkas Beziehungsunfähigkeit erklärt sich zum großen Teil aus einem anderen Dilemma. "Kafka sah klar die Unvereinbarkeit von Schreiben und einem 'normalen' Leben", so Friedländer. Die nächtlichen Ekstasen am Schreibtisch waren letztlich wichtiger als das halbherzig angestrebte Eheleben. Wer die literarischen Kräfte eines Jahrhundertgenies in sich spürt, soll so entscheiden.

Ein souveränes Kapitel ist dem ambivalenten Verhältnis zum Judentum gewidmet. Die langen Gesprächsszenen in den Romanen haben zum Teil das Gepräge talmudischer Debatten. Aber in Kafkas Werk ist die Tradition erkrankt, es bleiben nur noch Brosamen vom Tisch des "Gesetzes", Weisheit ist nur als Zerfallsprodukt zu haben, als letztes Gerücht von den wahren Dingen.

Dieses Buch hat mehr zu bieten als ein paar zu starke Thesen. Es ist ein kleines Kafka-Kompendium, das in zentrale Motive und Konflikte einführt, darunter die ewige Sohnschaft und das produktive Vater-Problem. Es enthält eine inspirierte Interpretation der Erzählung "Ein Landarzt", die Friedländer als Komprimat von Kafkas perfider Albtraumwelt liest. Ansonsten gilt der Satz aus dem "Proceß": "Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus."

Besprochen von Wolfgang Schneider

Saul Friedländer: Franz Kafka
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
C.H. Beck Verlag, München 2012
256 Seiten, 19,95 Euro

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