Gelebte Vielfalt

Von Dorothea Brummerloh · 07.09.2013
Guinea ist ein Land der vielen Religionen. Mehrheitlich muslimisch, finden sich dort auch starke christliche und naturreligiöse Traditionen. Erstaunlicherweise funktioniert dieses Miteinander recht harmonisch. Denn die gelebte Toleranz beginnt schon in den Schulen.
Freitagabend, eine katholische Andacht in Friguiagbé, einem kleinen Ort im westafrikanischen Guinea. Normalerweise werden hier in diesem Raum Kinder unterrichtet. Doch an Sonn- oder Festtagen fungiert das Klassenzimmer als Kirchenraum.

Das Lehrerpult ist jetzt so etwas wie ein Altar: Kerzen brennen darauf, die Bibel liegt vor dem Kruzifix.

Draußen herrschen immer noch fast 40 Grad und so ist es in dem kleinen Raum heiß und stickig. Unter den wenigen Gemeindemitgliedern, die gekommen sind, ist Agnes Loua. Nach der Andacht erzählt die Schulleiterin von ihrer Schule.

"Das ist eine christliche Schule. Aber hier lernen nicht nur Christen, sondern auch Muslime. Das liegt daran, dass hier in der Gegend mehr Muslime als Christen leben. Wir unterrichten wie die staatlichen Schulen nach dem vorgegebenen Lehrplan. Deshalb gibt es auch keinen Religionsunterricht. Nur am Sonntag, nach der Messe treffen sich die christlichen Kinder hier zur Sonntagsschule und dann unterrichten wir sie im Katechismus."

Wir bringen ihnen die Grundfragen des christlichen Glaubens bei, erklärt Madame Loua, deren einzige christliche Insignie ein winziges goldenes Kreuz an ihrer Halskette ist.

"Den Katechismus unterteilen wir in drei Abschnitte: Im ersten lernen die Kinder, was es heißt, Christ zu sein. Die Geschichte der Christenheit lernen sie im zweiten und im dritten Abschnitt sprechen wir über die christlichen Feste, also was bedeutet zum Beispiel die Taufe. Dabei sprechen wir mit den Schülern auch immer darüber, wie sich Christen anderen Menschen gegenüber verhalten sollen. Jeder Abschnitt dauert ein Jahr."

Teressé hat die Sonntagsschule von Madame Loua besucht und im letzten Jahr ihre Erstkommunion gefeiert. Jetzt geht der Teenager regelmäßig in die Messe, aber auch zur Beichte.

"Ich bete jeden Tag, jeden Morgen. Das hilft mir, mein Herz zu öffnen und über die anderen Menschen nicht schlecht zu denken. Mein Glauben unterstützt mich, zeigt mir den Weg und verbietet mir, böse zu sein."

Agnes Loua nickt. Nicht böse sein, den anderen akzeptieren, auch wenn er oder gerade weil er anders ist. Dazu gehört für die Katholikin, dass sie ihren Schülern etwas über die anderen Religionen erzählt. In einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Muslime sind, es neben Katholiken, Protestanten und Evangelikalen auch Anhänger der Naturreligionen gibt, ist das wichtig.

"Es geht darum, die Kinder auf das Leben vorzubereiten. Sie müssen wissen, dass es in Guinea, dass es auf der ganzen Welt nicht nur Christen gibt, sondern auch Muslime, Buddhisten und Juden. Und in unserem Unterricht erfahren sie über die Unterschiede der Religionen."

Madame Loua ist tolerant gegenüber anderen Religionen und vermittelt das auch in ihrer Sonntagsschule. Das war schon vor der Kolonisation und der damit verbunden Christianisierung und Islamisierung so, sagt die Lehrerin und erklärt weiter, dass es bereits die Naturreligion gab. Man glaubte zum Beispiel an die Kraft heiliger Masken oder an die Kraft der Ahnen. Und diese Gottheiten, an die man glaubte, waren oft von Stamm zu Stamm unterschiedlich. Insofern hat Guinea eine lange Tradition religiöser Toleranz. Heute gehen Muslime oder Katholiken völlig selbstverständlich zum Ort ihrer Ahnen, um dort an einem heiligen Baum zu beten oder Heilwasser zu holen. Wie auch in vielen Ländern Lateinamerikas hat sich ein von allen Seiten stillschweigend geduldeter Synkretismus entwickelt hat und diese Vermischung der Religionen ermöglicht das Zusammenleben. Heute ist Guinea ist ein säkularer Staat, eine Republik, in der es keine Staatsreligion gibt. Muslime, Christen und Animisten leben seit der Staatsgründung 1958 respektvoll zusammen.

Eine Autostunde von Friguiagbé liegt das Dorf Fodeya. Mitten im Dorf steht ein helles Schulgebäude. Es ist gerade Pause und die Schüler stürmen auf den Schulhof. Ihre Schule ist mit einer Anschubfinanzierung aus Deutschland, einem Dorfgrundstück, der Arbeitskraft der Eltern und Materialien aus der Umgebung entstanden, erklärt Sekou Bangoura, der die Schule gebaut hat. In dieser für Guinea auf ungewöhnliche Art und Weise erbauten Schule - von denen es mittlerweile drei gibt - wird auch ein ungewöhnliches Fach unterrichtet: "Ich darf reden" heißt es. Bangoura, der in Deutschland Architektur studiert hat, hat es sich selbst ausgedacht und er unterrichtet es auch.

"Dort haben die Kinder Chance, ihre Meinung zu sagen, nachzudenken und etwas zu erzählen. Das ist in anderen Schulen nicht der Fall. Man fragt die Kinder nicht, was sie denken, was sie wollen. Bei uns nehmen wir uns Zeit für das Kind. Das ist unsere Zukunft und deswegen verlangen wir, dass sie Initiativ zeigen."

In diesem Fach sollen die Kinder auch etwas über die verschiedenen Religionen ihrer Heimat erfahren – unabhängig von religiösen Führern.

"Normalerweise sind Erwachsene oder Lehrer verpflichtet, den Kindern alles zu erzählen und zu zeigen. Aber hier ist das nicht der Fall. Man erzählt den Kindern nichts über Religionen."

An staatlichen Schulen gibt es weder Religionsunterricht, noch Sozialkunde oder Ethikunterricht. Zugegeben: In einem Land, in dem nur etwa jedes zweite Kind eine Grundschule besucht, rund 60 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind, gibt es sicher andere Probleme, wenn es um Bildung geht. Aber es gibt eben auch die verschiedenen Religionen, sagt Sekou Bangoura. Und dass das Zusammenleben nicht immer ohne Probleme abgeht, sieht man in Guineas Nachbarland Mali.

"Es gibt eine Gefahr hier: Radikalismus, Islamismus. Also immer wo es keine Schule gibt, da baue ich eine Schule. Wo es keine Schule gibt, besteht die Gefahr, dass Islamisten oder Radikale eine Schule bauen. Und was wird dann?"

Die religiöse Erziehung und Wissensvermittlung obliegt in Guinea allein den Imamen, Priestern und religiösen Oberhäuptern. Damit trage man eine große Verantwortung, der man sich bewusst sein müsse, sagt Pater Frederik Lutie. Der Vikar der katholischen Kirche "Santa Croix" in Kindia betreut zusammen mit zwei Priestern die Gläubigen der Umgebung. Dazu gehört der Religionsunterricht, in dem die Patres ethisch-moralische Grundlagen des Christentums vermitteln.
"Wenn wir Kinder aufnehmen, sind wir verpflichtet, über alle Religion zu sprechen. Wir sprechen über die traditionellen Religionen und wie sich die Kirche hier in Guinea entwickelt hat. Die Kinder erfahren, was es heißt, Muslim zu sein, Jude oder Buddhist zu sein und was die Naturreligion ist. So können die Kinder verstehen, was ihre christliche Religion ausmacht. Wir vermitteln den Kindern ein universelles Wissen über die Religionen."

Dieses universelle Wissen vermittelt Pater Rafael gerade in der École Maternelle, der Grundschule. Normalerweise werden hier Zwei- bis Sechsjährige unterrichtet. Der baumlange Pater muss sich in die winzigen Bänke zwängen, seine Schüler im Alter zwischen 12 und 14 Jahren machen keine bessere Figur.

Pater Rafael bereitet die Jugendlichen auf ihre Erstkommunion vor. Bisher hat er nur über das Christentum gesprochen.

"Zuerst kommt natürlich die christliche Religion, denn es ist ja eine Kommunionsklasse. Nach und nach sprechen wir über die anderen Weltreligionen. Ich sage den Kindern immer, dass die christliche Religion nicht die Naturreligion kaputt machen will. Wir nehmen diese Naturreligion als den ersten Schritt der Religion, die es vor den Christen gab."

Rafael erzählt, dass auch die Protestanten in ihrem Religionsunterricht über die anderen Religionen erzählen. Woher er das weiß? Augenzwinkern. In Guinea sieht man das nicht so eng wie in Europa, sagt der junge Priester. Man lebt miteinander, tauscht sich aus – gelebte Ökumene sozusagen. Auch Paare mit unterschiedlicher Konfession kommen zu uns in den Gottesdienst, ergänzt Pater Frederik.

"Wenn große Feste sind - ob nun die der Moslems oder die der Christen -, dann feiert man zusammen. Oder nehmen sie ein Paar, wo die Frau Christin ist und der Mann Muslim. Dann begleitet die Frau ihren Mann in die Moschee und er sie zur Kirche. Das ist für uns kein Problem. Und das gibt es auch bei den Protestanten."

Katholiken und Protestanten vermitteln ihren Kindern in ihrem Religionsunterricht Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Die Koranschulen genießen in puncto Toleranz häufig einen zweifelhaften Ruf. Vor allem im arabischen Raum. Und in Guinea?

20 Jungen sitzen auf dem Fußboden in einem Halbkreis um einen Mann im braunen Kaftan. Der Mann in der Mitte ist Imam Mohamed Bangoura, der Koranlehrer.

"Ich bringe ihnen Gottes Sprache bei. Denn in der Koranschule geht es darum, Gott kennenzulernen. Und dafür sind drei Sachen wichtig, die ich meinen Schülern lehre: Sie sollen Gott, Mohamed und unsere Welt kennenlernen."

Neben diesen traditionellen Koranschulen, in denen es nur um das Rezitieren des Korans geht, gibt es noch die so genannten franco-arabischen Schulen.

"Es wird auf Arabisch unterrichtet, der Schrift des Korans. Die Kinder lernen lesen und schreiben. Danach können sie den Koran in ihre Muttersprache übersetzen. In der franco-arabischen Schule geht es natürlich auch darum, den Propheten kennenzulernen und die gesamte Religion."

Was bedeutet, dass auch hier die Schüler die anderen Religionen kennenlernen.

"Wir bringen das den Kindern bei, weil dass alles auch zur Welt gehört. Wir sind doch alles Gottesgeschöpfe. Und es gibt nicht nur eine Religion. Und diejenigen, die Gewalt gegen die anderen anwenden, haben die Religion nicht begriffen. Allah hat gesagt, ein guter Mensch ist der, der eine Religion hat, der sich korrekt verhält und andere Leute akzeptiert und respektiert – das will Allah. Allah will nicht, dass wir böse sind, dass wir jemanden umbringen. Wenn Du Dich daran hältst, bist du ein guter Mensch und bekommst im Name Allahs Gotteslohn."