Geistesverwandt mit Albert Einstein

Die vierte Dimension und die Kunst

Oktober 2015: Eine Frau betrachtet in der Ausstellung "Klee & Kandinsky" im Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München das Kunstwerk "Autour du cercle" von Wassily Kandinsky aus dem Jahr 1940.
Oktober 2015: Eine Frau betrachtet in der Ausstellung "Klee & Kandinsky" im Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München das Kunstwerk "Autour du cercle" von Wassily Kandinsky aus dem Jahr 1940. © picture alliance / dpa
Von Robert Brammer · 25.11.2015
Wir Menschen können nicht vierdimensional sehen. Deshalb tun wir uns mit Einsteins Relativitätstheorie so schwer. Auf die Künstler des frühen 20. Jahrhunderts hatten Einsteins Analysen von Raum und Zeit dennoch eine große Wirkung.
"Der normale Erwachsene", gestand Albert Einstein einmal, "denkt nicht über Raum-Zeitprobleme nach. Das erledigen Kinder.”
Vielleicht könnte man hinzufügen: Auch Künstler tun das. Es gehörte jedenfalls zur Grundstimmung Anfang des 20. Jahrhunderts, vieles zu hinterfragen. In der bildenden Kunst verwarf Picasso die Zentralperspektive. Arnold Schönberg löste die Dur und Moll-Tonarten in Zwölftonmusik auf und James Joyce verwarf mit dem inneren Monolog seines Protagonisten Leopold Bloom in "Ulysseus" die traditionelle Erzählweise des Romans. Während die Physik abstrakt wurde, wurde es auch die Kunst. War das nur purer Zufall, dass Naturwissenschaften und Kunst nahezu parallel in unbekannte Bereiche vordrangen? Oder hatte am Ende die Physik die Kunst beeinflusst?
Für Jürgen Renn, Wissenschaftshistoriker und Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, existieren hier keine eindeutigen Antworten.
"Es gibt mehr als diese beiden Alternativen. Es gibt nicht nur den Zufall und es gibt nicht nur die direkte Beeinflussung. Ich glaube, die direkte Beeinflussung ist eher schwer nachzuweisen. Zwar haben sich Leute wie James Joyce direkt auf Einstein bezogen. Und viele andere moderne Künstler haben das ebenfalls getan. Ich glaube aber deshalb noch nicht, dass ihre künstlerischen Neuerungen direkt auf Einflüsse von Einsteins Theorien zurückgehen. Die waren für Künstler nicht so einfach zu verstehen. Und ich glaube, die Künstler rangen mit ihren eigenen Problemen. Das hinderte sie aber nicht daran, eine Art Geistesverwandtschaft zu erkennen in dieser Infragestellung des Überlieferten und in dem Mut, die Dinge neu zu konstruieren, gewissermaßen sich neue Perspektiven zu verschaffen."
Unser Gehirn ist beschränkt und kennt keine vierte Dimension
Seit jeher dachten Gelehrte und Wissenschaftler, Raum und Zeit, das seien absolute Größen, ewig und unveränderlich. Denn unsere gesamte Existenz - alles was wir tun, denken und erfahren - findet in einem Raum und innerhalb eines Zeitintervalls statt. Spätestens seit Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist diese Vorstellung aber obsolet geworden. Und doch haben wir seine Theorie bis heute nicht wirklich verinnerlicht – wir haben sie nicht im Gefühl und wir haben auch keine Intuition für ihre Folgen. Denn wir sind, so der Potsdamer Physiker Stefan Theissen, unfähig, uns mit unserer dreidimensionalen Wahrnehmung ein Bild von der vierten Dimension zu machen.
"Also man kann ja nicht vierdimensional sehen. Insofern ist das schon eine Beschränkung unseres Gehirns."
Einsteins Ausführungen wirkten damals schockierend und bleiben es bis heute. Denn sie vermittelten, so Hermann Nicolai, Leiter des Potsdamer Albert Einstein-Instituts für Gravitationsphysik, die Erkenntnis, dass auch alternative Geometrien möglich sind.
"Wir können uns einfach bildlich nicht vorstellen, wie ein vierdimensionaler Raum aussieht, wie er wirklich aussieht. Weil wir ja leben in drei Raumdimensionen und als biologische Wesen sind wir in drei Dimensionen entstanden. Wir können nur drei Dimensionen wahrnehmen. Was aber nicht heißt, dass es darüber hinaus nicht was anderes gibt. Also wenn wir etwas mit den Sinnen nicht unmittelbar erfassen können, heißt das nicht, dass wir es nicht trotzdem verstehen können."
Für Irritationen hatte schon der Vortrag des Göttinger Mathematiker Bernhard Riemann gesorgt. Im Juni 1854 hielt er eine berühmte Vorlesung über die Theorien höherer Dimensionen. Seine Hypothesen inspirierten damals auch Künstler, sich mit dem Raumbegriff der modernen Naturwissenschaften zu beschäftigten. Die vierte Dimension hat die Fantasie von Komponisten wie Varese oder Schönberg angeregt und tauchte in den literarischen Werken von Wilde oder Wells auf.
Künstler mischten wissenschaftliche Erkenntnisse mit bildhafte Fantasien
"Alles wurde unsicher, wackelig und weich",
erinnerte sich der Maler Wassily Kandinsky in seinem Buch "Rückblicke" und bezog sich auf Einstein, der vor 100 Jahren in seiner allgemeinen Relativitätstheorie die Gravitation völlig neu definierte: als eine Krümmung von Raum und Zeit. Begierig sogen Künstler und Architekten wie Walter Gropius oder Mies van der Rohe die Einstein'sche Vorstellung eines raumzeitlichen Kontinuums auf und vermischten wissenschaftliche Erkenntnisse mit bildhaften Fantasien. So entstand eine dynamische, eine fließende Architektur, die zu den folgenreichsten Errungenschaften der Baugeschichte des 20. Jahrhunderts werden sollte. Dennoch sieht der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn Einstein vor allem als einen Anreger für die Avantgarde, dessen Theorien sich aber nicht direkt in der Werken der Künstler niederschlugen.
"Zwischen diesen beiden Welten, P.C. Snow hat sie 'die beiden Kulturen' genannt, da klaffte ja eine erhebliche Lücke, die durchaus auch mit Ablehnung verbunden war, insbesondere auf Seiten vieler Künstler gegenüber der Mathematik, gegenüber einer immer abstrakter werdenden Naturwissenschaft, die das, was ihnen künstlerisch am Herzen lag, zu kalt und zu unfruchtbar erschien."
Und doch scheint es Ausnahmen gegeben zu haben. Der Maler Paul Klee zum Beispiel schrieb 1905 - in dem Jahr als Einstein seine spezielle Relativitätstheorie entwickelte:
"Das Gesetz, welches den Raum trägt", das müsste der berechtigte Titel eines meiner Zukunftsbilder sein!
Klee, der sich in seinen Schriften mit der Relativitätstheorie beschäftigte, versuchte sie auch in seinen Bildern umzusetzen, indem er ein horizontal gegliedertes Streifensystem zeichnete, das sich wie ein Gitter aus elastischen Bändern erweitert oder verjüngt. Diese über das ganze Bild ausgebreiteten Parallelstrukturen scheinen nie zu beginnen und nie aufzuhören und suggerieren so die Unendlichkeit des Raumes.
Paul Klee analysierte damals:
"Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht."
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