Geistesgeschichte

Der Einmischer

Jürgen Habermas am 2. Februar 2014 bei der SPD-Klausurtagung in Potsdam.
Der Philosoph Jürgen Habermas © dpa / picture alliance / Bernd Settnik
Von Arno Orzessek · 18.06.2014
Jürgen Habermas hat sich nicht nur als Philosoph hervorgetan, sondern auch als kritischer Intellektueller, der keine Debatte scheut. Auslöser für sein Engagement war die Erfahrung des Holocaust, auf den zu reagieren für ihn zur "historischen Pflicht" wurde.
Es war einmal ein alter Opel, Baujahr '36, der wurde in der Familie Habermas "Grauchen" gerufen. Im Sommer '54 nun, da lieh sich Sohn Jürgen das "Grauchen" aus und tuckerte mit Bruder und Freund bis hinab nach Portugal.
Ferien-Amouren sind nicht überliefert. Wohl aber, dass Jürgen, kaum zurück, in der FAZ den Artikel "Autofahren. Der Mensch am Lenkrad" veröffentlichte.
Darin beschreibt er das Autofahren als "so etwas wie eine Geisteswissenschaft". Am Steuer müsse man ja "fortwährend fremde Texte übersetzen, fremde Welten, Stile, Manieren und Marotten antizipieren".
Woraus hervorgeht, dass Jürgen erstens abenteuerlustig war und zweitens praktisch alles zu Text machen konnte, was ihm begegnete.
Tatsächlich hatte sich Habermas schon ein Jahr zuvor als öffentlicher Intellektueller hervorgetan, indem er – ebenfalls in der FAZ – Martin Heideggers "Einführung in die Metaphysik" als tiefbraun entlarvte.
Jürgen Habermas: "Lange bevor ich an den berüchtigten Satz von der inneren Wahrheit und Größe der Bewegung kam, war ich irgendwie entsetzt von der Rhetorik, dem Stil, der Wortwahl, der Begrifflichkeit. Lesen Sie das heute mal - 'Einleitung in die Metaphysik'. Das war Nazi!"
Und Nazi – das ging und das geht für Habermas unter gar keinen Umständen.
Die Pflicht, auf den Holocaust zu reagieren
Geboren 1929 in Düsseldorf, hatte er nach Kriegsende jene Filme gesehen, in denen die Körper von KZ-Häftlingen die Wahrheit über das NS-Regime bezeugten.
"Das war ein Leichenberg. Das war ein Berg mit Skeletten. Und dann sah man, dass diese Menschen tatsächlich noch lebten. Na ja, und wenn Sie dann 15, 16 sind, dann ist ganz egal, was Sie sonst noch im Kopf haben und Sie sehen: Das war's, wo du drin gelebt hast – alle, denke ich, meiner Generation mussten darauf reagieren."
Die historische Pflicht, auf den Holocaust zu reagieren, hat Habermas unerbittlich erfüllt: Angefangen mit dem Streit um Heideggers Schrift über den Historikerstreit in den 80er-Jahren und den Streit um die Gentechnik bis hin zum Streit ums Berliner Holocaust-Mahnmal.
Für das große Publikum eher verborgen begann Habermas' akademische Karriere, die ihn 1956 ans Frankfurter Institut für Sozialforschung und in die Nähe von Horkheimer und Adorno führte, den Meistern der Kritischen Theorie.
Für Horkheimer zu radikal
Ein harmonisches Trio waren sie nicht. Horkheimer fand Habermas allzu radikal. Denn der las Karl Marx, und – sein Problem – er stand auch dazu.
"Sie haben keine Ahnung, was die 50er-Jahre waren. Die 50er-Jahre! Wo da die Plakate von dem Adenauer hingen, gegen die SPD: Alle Wege führen nach Moskau. Da konnte man doch öffentlich den Namen Marx nicht erwähnen!"
Um Missverständnissen vorzubeugen: Orthodoxer Marxist war Habermas nie ...
Und als später Preise gewittergleich auf ihn herab prasselten, darunter 2001 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, skizzierte er seine politische Route so:
"Für Leute wie mich enthält ein solcher Preis ja auch eine Mitteilung: Darauf, dass er, der Preisträger, nun, auch wenn er vom linken Rande herkommt, in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. [Gelächter] Sagen wir [Applaus], sagen wir in der linksliberalen Facette dieser Mitte."
Unterwegs hat Habermas alles Mögliche gemacht. Er hat den Suhrkamp Verlag beraten, wenn nicht beherrscht, gewaltbereite 68er-Studenten des "linken Faschismus" bezichtigt, ein tolles Bauhaus-Haus in Starnberg gebaut, Kinder gezeugt, die Moderne gegen die Postmoderne verteidigt und immerzu Problemwälzer geschrieben:
Strukturwandel der Öffentlichkeit, Erkenntnis und Interesse, Faktizität und Geltung und natürlich Theorie des kommunikativen Handelns, das Werk, das Peter Sloterdijk als die "Zivilreligion der Nachkriegszeit" bezeichnet hat.
Und wäre es nicht wirklich prima, wenn Habermas' zentrales Konzept der kommunikativen Rationalität funktionieren würde? Wenn sich wohlgesonnene Demokraten allein durch den "zwanglosen Zwang" des besseren Arguments gegenseitig davon überzeugen würden, was zu tun und was zu lassen ist?
Allein, auf dem Boden politischer Tatsachen sieht es anders aus. Was wiederum nicht gegen den normativen Denker Habermas und das Vernunftpotenzial jeder Sprachpraxis spricht.
Einmischungslust als Konsequenz politischer Philosophie
Laut Biograph Stefan Müller-Dohm entzündet sich Habermas' Einmischungslust an solchen wissenschaftlichen Einsichten:
"Ich meine, dieses politische Engagement ist Konsequenz seiner politischen Philosophie. Er will die Produktivkraft 'Kommunikation' unter Beweis stellen. Und deshalb meldet er sich unentwegt zu Wort."
Zum Beispiel im Oktober 2006. Das schwarz-rot-goldene Sommermärchen war gerade vorbei, da ätzte Habermas gegen Wohlfühlpatriotismus.
"Die Gewissheit heiler nationaler Wurzeln soll eine wohlfahrtsstaatlich verweichlichte Bevölkerung für den globalen Wettkampf zukunftsfähig machen. Und diese Rhetorik passt zum gegenwärtigen Zustand einer sozialdarwinistisch enthemmten Weltpolitik."
Mit Europa- und mit Weltpolitik hat sich der Debatten-Junkie zuletzt am meisten befasst. Denn Habermas, der als Jüngling mit "Grauchen" auszog, um Europa kennenzulernen, träumt noch als Greis den größten aller politischen Träume. Er handelt von einer friedlichen Weltbürgergesellschaft.
Im übrigen ertönen zu Habermas' 85. Geburtstag solche und solche Stimmen. Der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers schreibt: "Es ist nicht schwierig, sich vor ihm zu fürchten."
Anders Habermas' Weggefährte Lutz Wingert, der eine bedeutende Analogie aufdeckt:
"Der Ruhm ist ihm nicht so in den Kopf gestiegen, nicht allzu sehr. Und er ähnelt dann eher Messi und hat nichts von Ronaldo."
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