Geister der Vergangenheit

13.04.2010
Paul Wendland ist ein junger Galerist, der in Berlin auf seinen Durchbruch wartet - und den ein Anruf seiner Mutter aus seinem Lümmelleben reißt. Dabei erfährt er, dass das Familienerbe im Moor von Worpswede zu versinken droht. Er kehrt zurück an den Ort seiner Kindheit.
Wer ist Paul Wendland, der am Ende des knapp 500 Seiten umfassenden Romans "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" Whiskey on the rocks zu seiner Schale Salznüsschen bestellt? Jedenfalls ein junger Mann, der das Staunen noch nicht verlernt hat und am Ernst des Lebens vorbeischliddert. Dieser sympathische Typ, der nicht nur den Geburtsort Worpswede mit seinem Erfinder, dem Dramatiker und Schriftsteller Moritz Rinke, gemein hat, ist ein Träumer, der durch den Anruf seiner Mutter aus seinem Berliner Lümmelleben als Galerist gerissen wird.

Sie schickt ihn zurück "nach Hause", nach Worpswede, jenem im Teufelsmoor gelegenen Künstlerort, in dem mittags Busladungen mit Touristen eintreffen, die lebende Künstler anstarren wollen, weil hier in Worpswede so berühmte Bildhauer und Maler wie Fritz Mackensen, Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker gelebt haben.

Pauls Großvater, der Künstler Paul Kück, sei, sagt die Mutter, die auf Lanzarote ein verspätetes Hippieleben führt, soeben zum "Künstler des Jahrhunderts" gewählt worden. Kein anderer als er, der Galerist, könne sich sachkundiger um Erbe, Ruhm und steigende Marktpreise kümmern. Trotz seiner "Moorallergie" und einer Freundin, die aus Barcelona eine gutgelaunte SMS nach der anderen schickt, kehrt Paul zurück und findet während seiner Recherche nicht nur die Spuren seiner Kindheit, sondern auch die Vergangenheit dieses Ortes.

Rinke, der sich ausführlich mit der Nibelungensage beschäftigte und dessen Bearbeitung der "Nibelungen" 2002 in Worms uraufgeführt wurden, hat sich nach dem großen Mythos das kleine "Worpswede" vorgenommen. Der geübte Dramatiker schlendert immer eine Spur neben der Wirklichkeit entlang, damit diese Wirklichkeit klarer zu sehen ist. Viel Komik und ebenso viel Symbolik werden von ihm eingesetzt, um das Künstlerdorf als Kitsch und Lug und Trug zu demaskieren.

Das beginnt mit dem Haus des großen Bildhauers Paul Kück, das mitsamt den von ihm geschaffenen mannshohen Skulpturen von Luther bis Bismarck, von Willy Brandt bis Ringo Starr, im Moor zu versinken droht und landet bei der antisemitischen Vergangenheit der Worpswede-Prominenz, Großvater Paul Kück eingeschlossen.

Moritz Rinke ist ein Fabulierer, der mit Lust Details wie Fahrradtouren und Bordellbesuche in der Provinz beschreibt. Selbstverliebt und verspielt plaudert der Autor lässig vor sich hin. Vernarrt in sein Material, mischt er Sequenzen aus der eigenen Kindheit mit Gesellschaftskritik. Rinke macht sich als Mythenzertrümmerer nicht nur über den Mythos "Worpswede" lustig, sondern auch noch über die Anwandlungen der 68er.

Selbstverständlich gehen alle von Paul angeordneten Sanierungsarbeiten an seinem Elternhaus schief, aber er findet auf dem Dachboden und in der Scheune Dokumente von familieninterner Tragik. Der "Rodin des Nordens" und "Künstler des Jahrhunderts" hat nicht nur Luther, sondern auch Nazigrößen porträtiert.

Am Ende liegt das Haus "wie ein verlorenes Schiff" im Moor, auch der Stuhl, auf dem Paul sitzt, um "aktuelle Probleme" ins Notizbuch zu notieren, versinkt. Moritz Rinke liebt seinen Helden. Paul Wendland zieht die Füße aus dem Sumpf und entkommt!

Rezensiert von Verena Auffermann

Moritz Rinke: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel
Roman, Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln 2010, 481 Seiten, 19,95 Euro