Gehirn-Theater

31.01.2012
Wer wüsste nicht gern, was beim Denken und Fühlen im menschlichen Gehirn geschieht. Einige moderne Komponisten finden diese Frage so anregend, dass sie darüber Musik schreiben. Das Pariser Ensemble intercontemporain stellte ein ganzes Konzertprogramm in diesen Zusammenhang.
Wir haben das Gastspiel der französischen Neue-Musik-Spezialisten vor knapp drei Wochen in der Kölner Philharmonie aufgenommen. Susanna Mälkki, die finnische Chefin des von Pierre Boulez gegründeten Ensemble intercontemporain, leitete dieses Konzert. Sie gibt in einem ausführlichen Pausengespräch Auskunft über ihren Zugang zur Musik der koreanischen Komponistin Unsuk Chin, des Schweizers Michael Jarrell und der beiden Nachwuchskünstler Sean Shepherd aus New York und Texu Kim aus Seoul.

Sean Shepherd reist gern und viel - er genießt dabei die Blicke aus dem Fenster des Flugzeugs, Zuges oder Autos und seine Augen sehen dann vieles verschwommen - das Englische Wort "Blur" beschreibt diese Art der visuellen Wahrnehmung. In seinem gleichnamigen Ensemblestück findet Shepherd erstaunlich klare und wohklkingende Entsprechungen für seine Reiseerlebnisse. Sein koreanischer Kollege Texu Kim ist studierter Chemiker. In seiner "Toccata Inquieta" (ungleiche Toccata) - einem quasi Cembalokonzert - spielt er mit allerlei Anspielungen an die alte Musik Europas und zugleich mit chemischen Prozessen, die Töne verschmelzen und verwandeln.

Im zweiten Teil betreibt der Genfer Komponist Michael Jarrell Hirnakrobatik - seine sehr an Pierre Boulez angelehnte Musik ist von neurowissenschaftlichen Gedanken inspiriert. Hauptwerk des Programms ist die vervollständigte Fassung von Unsuk Chins "Gougalon. Szenen eines Straßentheaters": Sechs äußerst amüsante und vielfarbige Momente drastischer Straßenalltagskultur. Unsuk Chin war vor drei Jahren mit dem Siemens-Arts-Programm in der chinesischen Megalopolis Guangzhou und fühlte sich dort an früheste Kindheitstage in Südkorea erinnert, an arme Schauspieler, die in einem durchaus kitschigen und rohen Straßentheater Werbung für billigste Produkte machen. Diese Erinnerungen hat Unsuk Chin in ein eindrucksvolles Musikstück transformiert. Erinnerungen sind wohl die wertvollsten Gedanken, die sich ein menschliches Hirn machen kann.



Kölner Philharmonie
Aufzeichnung vom 12.1.12


Sean Shepherd
"Blur" für Ensemble (Deutsche Erstaufführung)

Texu Kim
"Toccata inquieta" für Cembalo und großes Ensemble
(Deutsche Erstaufführung)

Unsuk Chin
"Gougalon. Szenen eines Straßentheaters" für Ensemble
(Deutsche Erstaufführung der neuen Fassung)

ca. 20:55 Uhr Konzertpause mit Nachrichten
"Was dahinter steckt"
Volker Michael im Gespräch mit Susanna Mälkki

Michael Jarrell
"La chambre aux échos" für Ensemble


Dimitri Vassilakis, Cembalo
Ensemble intercontemporain
Leitung: Susanna Mälkki