Geheimnisvolle Textkomposition

25.04.2012
In Stil und Atmosphäre changieren die Episoden in "Die Inseln, auf denen ich strande": von düster bis heiter, von vier Zeilen kurz bis 29 Seiten lang. Der textmächtige Erzählband von Lucien Deprijck ist mit feinen Illustrationen von Christian Schneider kunstvoll gestaltet.
18 Inseln sind es, auf denen jeweils ein Icherzähler mehr oder weniger unfreiwillig gestrandet ist. Ein aus der See ragender nackter Fels, ein Südseetraum mit Palmenstrand oder Jackson's Island im Mississippi mit Blick auf St. Petersburg gegenüber. Die absurde "Freie Republik Melota & Bedodos", ein surreales Mallorca oder Jules Vernes "Chairman Island" kurz vor Feuerland, auf der ein Zivilisationsflüchtling zwangsweise "zwei Jahre Ferien" macht. Sogar ein Inselchen im Gartenteich für Frösche ist dabei.

Mal findet das erzählende Ich Spuren früheren menschlichen Lebens, mal nur Früchte, Meeresgetier und Salzwasser. Und natürlich changieren Stil und Atmosphäre je nach Ausgangslage. Die Erzählungen sind mal albtraumhaft-dystopisch, mal erschütternd präzise Metaphern für depressive Zustände und Verzweiflung, mal fast paradiesisch-heiter und hoffnungsvoll. Manche lesen sich wie Parabeln auf die ewige Tretmühle des Daseins oder auf die klassischen Konflikte der Menschheit - Vater-Sohn, Mann-Frau, Erwachsener-Kind -, andere stecken voller Zivilisationsspott, manchmal in reiner Dialogform, oder literarischer Querverweise auf Mark Twain, Robert Louis Stevenson, Stanislaw Lem und andere.

Und sie sind verschieden lang, die längste Geschichte hat 29 Seiten, die kürzeste vier Zeilen. Sie geht so:

"Am Ufer der siebten Insel, auf der ich strande, weht eine deutsche Fahne. Ich versuche mit letzter Kraft, das noch fehlende Stück zum rettenden Strand zu kraulen, wo ein Mann steht und mir zuruft: 'Mann, können Sie nicht lesen? Hier ist Schwimmen strengstens untersagt!'"

Der letzten, der 18. Insel im Buch sind in der Erzählung selbst "16 oder 17 oder vielleicht noch mehr" vorangegangen: "Ich weiß nicht mehr, die wievielte Insel es ist." Aber wir Leser wissen inzwischen, dass das mit dem Stranden noch viel komplizierter ist, als gedacht, und gleichzeitig seltsam vertraut. Die letzten Inseln nämlich sind eine ganze Kette inmitten eines endlosen Ozeans.

Der Erzähler verlässt eine nach der anderen durch unerhörte Kraftakte, gegen die Brandung anschwimmend oder auf improvisierten Flößen, jedes Mal hoffend, die Nächste könnte mehr zum Überleben bieten, jedes Mal danach überzeugt, solche Kraft nie wieder aufzubringen. Ganz allein unterm freien Nachthimmel, beim tiefen Blick ins Universum, hat er "ein unbeschreibliches Gefühl" und weiß, er wird sich wieder aufraffen. "Ich bin schon soweit gekommen! Und jetzt aufzuhören, aufzugeben, das hätte wirklich keinen Sinn."

So mutiert das Ende untergründig zum ewigen Anfang, wie die neunzeilige erste Geschichte einen knalligen Endpunkt gesetzt hat: "Ich hatte nicht die geringste Chance. Aber es war auch kein faires Spiel." Mit diesem Stichwort wiederum ist gleichzeitig "das Spiel eröffnet": Das ganze wunderschön gestaltete Buch ist auch ein Spiel mit Zahlen und Zeiten, eine geheimnisvoll verschachtelte Komposition aus bildmächtigen Texten, die in den ebenso kunstvollen feinen Illustrationen von Christian Schneider kongenial gespiegelt sind.

Besprochen von Pieke Biermann

Lucien Deprijck: Die Inseln, auf denen ich strande
Mit Illustrationen von Christian Schneider
mare verlag, Hamburg 2012
192 Seiten, 28 Euro
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