Geheime Mafia-Botschaften

04.09.2009
Nach über 40 Jahren ging der Boss der Bosse Bernardo Provenzano der sizilianischen Polizei ins Netz: 2006 spürten die Carabinieri den meistgesuchten Mafioso Italiens in einer kleinen Hütte auf dem Land auf. Provenzano hatte über ein kompliziertes System von Briefen mit seinen Untergebenen kommuniziert und die Geschicke seiner weltweit agierenden Organisation aus dem Verborgenen gelenkt. Diese Zettel, auf Sizilianisch pizzini genannt, lockten die Polizei auf seine Fährte.
Andrea Camilleri, Erfinder des melancholischen Commissario Montalbano, Verfasser zahlreicher historischer Romane und einer der größten Exportschlager seines Landes, hat nun ein kleines Mafia-Lexikon verfasst, das den mythischen Mafioso zum Mittelpunkt macht und von den Botschaften seiner pizzini ausgeht. Die meisten der Einträge sind Begriffe, die regelmäßig in Provenzanos Korrespondenz auftauchten: Das reicht von "abtauchen", "Anti-Mafia", über "Familie", "Ehen", "Geschäfte", "Mafia", "Politik", "Priester" und "Vermittlung" bis zu "Zichoriengemüse", einer Leibspeise des Bosses, der unter Prostatabeschwerden litt und an die lindernde Wirkung der Zichorien glaubte.

Als Schriftsteller war Camilleri vermutlich von Provenzanos Vertrauen in das geschriebene Wort fasziniert. Er führt uns vor, dass gerade darin die Genialität des Clanchefs bestand. Über das Netz der Briefträger war eine Fülle von Personen direkt an ihn gebunden, die sich durch diese Aufgabe besonders geadelt fühlten – die Zettel wanderten von Hand zu Hand, wurden zerschnitten, in Hosensäume eingenäht, ins Gefängnis geschmuggelt, neu zusammen gesetzt und schließlich vom Empfänger gelesen. Bereits dieser Akt verlieh den mit der Schreibmaschine verfassten pizzini eine ungeheure Aura. Einen Zuwachs an Autorität gewannen sie außerdem, weil die stark verklausulierten, zum Teil auch fehlerhaften Nachrichten interpretiert werden mussten. Es entwickelte sich also so etwas wie eine Provenzano-Exegese. Und nicht zuletzt fixierte der Boss auf diese Weise immer wieder den Ehren-Kodex. Für einen Mafioso gibt es nichts jenseits der Mafia, privates Handeln muss im Einklang mit den Regeln der Organisation stehen, Ehebruch wird genauso strikt geahndet wie die Verweigerung eines Befehls.

Andrea Camilleri ist ein Schriftsteller mit einem hohen Ethos. Es widerstrebt ihm, die Mafia als Pop-Phänomen oder Spannungselement zu missbrauchen, weshalb sie in seinen Kriminalromanen nur ganz am Rande vorkommt. Der sizilianische Bestsellerautor entscheidet sich bewusst gegen eine erzählerische Aufbereitung. Die Form des Lexikons passt zu seinem aufklärerischen Selbstverständnis: seine Leser sollen die Mafia als Teil der italienischen Alltagskultur erkennen und begreifen, wie stark sie das gesellschaftliche System geprägt hat. Camilleris ungewöhnliches Diktionär ist eine nützliche Ergänzung zu den neuen Standardwerken über die organisierte Kriminalität. Nebenbei liefert der sizilianische Krimiexperte eine Art Charakterstudie. So wichtig seine Gefangennahme Provenzanos auch war – die Polizei hat nur den Kopf der Hydra erwischt.

Besprochen von Maike Albath

Andrea Camilleri: M wie Mafia
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Kindler Verlag, Reinbeck 2009
223 Seiten, 16,90 Euro