"Gegen diese Dunkelheit setze ich ein Licht"

Von Roman Kern · 05.04.2013
Schon während der Jugend beschäftigte sich Anja Bukschat mit der Geschichte der Berliner Juden, die während der Nazizeit deportiert wurden. Als Erwachsene begann sie, die Stolpersteine, die daran erinnern, vor ihrem Haus zu säubern und erfuhr dadurch das größte Glück ihres Lebens.
Ein kalter Novembertag in einer gutbürgerlichen Berliner Wohngegend. Die Häuser sind gepflegt und die Straßen sauber. Aber etwas passt nicht ins Bild: Mitten auf dem Gehweg kniet eine junge Frau. Wer näher kommt, kann sehen: Sie putzt. Aber diese Frau macht nicht einfach nur sauber. Sie putzt einen Stolperstein. In Berlin gibt es inzwischen mehrere tausend dieser kleinen Bronzeplaketten im Gehweg. Jede nennt mindestens einen Namen und zwei Daten für ein Opfer des Nationalsozialismus. Jede steht für einen Menschen, der einmal an diesem Ort gewohnt hat und aus seinem Leben
gerissen wurde.

Anja Bukschat: "Also ich bin in Gedanken an diesen Menschen und ich stelle mir vor, wie die Situation war, als sie abgeholt wurden und man vielleicht so die eine
oder andere Gardine hat sich bewegen sehen. Aber keiner der irgendwie
gezeigt hat: Das ist falsch, was hier passiert. Das ist ungerecht!"

Anja Bukschat ist 43 Jahre alt und Berlinerin. Was während der Nazizeit in ihrer Stadt geschah, beschäftigt sie schon als Jugendliche. Wie alle Schüler lernt sie geschichtlichen Daten und Fakten. Aber sie sucht einen direkteren Zugang. Das gelingt erst, als sie mit ihrem Partner vor etwa fünf Jahren in eine neue Wohnung zieht.

"Unser eines Zimmer blickt direkt auf die Steine. Und angefangen hatte es, dass ich die dann einfach regelmäßig geputzt hab. Und bei mir in der Straße liegen neben den zweien jetzt noch 33 andere Steine. Und dann dacht‘ ich: wenn Du Deine regelmäßig putzt, dann kriegen das die anderen vielleicht mit und machen das dann auch. War leider nicht so! Und dann bin ich immer an sechs Steinen vorbei gegangen, die halt ungeputzt waren. Und dann dachte ich: Die können ja auch nichts dafür, dass sie nicht bei Deiner Tür praktisch liegen. Und bevor Du Dich jetzt hier immer ärgerst über die Leute, die's halt nicht machen, machstes halt mit. Naja, und dann haste die sechs mitgemacht. Und zum Schluss hab‘ ich dann alle Steine geputzt."

Ein vernachlässigter Stolperstein wird unleserlich. Bis Anja so einen Stein wieder blank geputzt hat, vergehen etwa fünf Minuten. Und es ist körperlich anstrengende Arbeit. Für sie ist es auch ein Weg, mit ihrer Hilflosigkeit und ihrer Wut umzugehen:

"Wenn das halt sich aufbaut, dann nimm‘ Deinen Putzlappen und putz‘ es weg. Und gleichzeitig machst Du die Menschen, die da gewohnt haben, wieder sichtbar. Und gleichzeitig bietest Du Dich selber an für ein Gespräch mit den Leuten, die an Dir vorbeigehen."

Anja und ihr Mann beginnen, sich intensiver mit den Stolpersteinen zu beschäftigen. Sie machen Bilder, die sie im Internet veröffentlichen. Auf der Straße kommt es dabei zu den unterschiedlichsten Reaktionen:

"Die meisten meinen es ja nett, wenn sie sagen ´Ah, das machen sie aber toll und das ist super, das sie das machen`, Und ich denk‘ immer nur: Knie Du Dich hier hin und mach‘ Du es, wenn's so toll ist. Aber auf die Idee kommt dann halt keiner."

Wenn Anja im öffentlichen Raum auf die Knie geht, dann fällt das auf. Ihr Verhalten sorgt sie für Reibung – in einem Fall kam es sogar zur einer Auseinandersetzung:

"Und dann gab's da auch jemanden, der mir erzählen wollte, dass ich da eine Genehmigung bräuchte, um die Steine vor seinem Haus zu putzen und der mir dann auch mit der Polizei drohte. Und dann hab‘ ich gesagt: ´Ja, das will ich mal sehen, wenn sie die Polizei rufen und denen sagen – hier macht jemand sauber`. Das hat er dann nicht gemacht und dann hat er an der nächsten Stelle schon auf mich gewartet. Und dann dacht‘ ich: Ja, jetzt musst Du mal tapfer sein, hast das Handy dabei, im Notfall? Gut, Du gehst da jetzt da hin und der wartet schon. Und dann kniest Du Dich da wieder hin und guckst Dir wieder seine Fußspitzen an. Und das nächste Argument war, dass ich die Umwelt verschmutze mit meinem Putzmittel. Das zog auch nicht. Und dann kam, dass die armen alten Leute ja ausrutschen können."

Anja geht zu Gedenkmärschen. Sie recherchiert. Sie will will wissen, was in ihrer Stadt geschah – und an welchen Orten.

"Wenn Du Dich damit intensiver auseinandersetzt und immer wieder die Namen liest und die Jahrgänge siehst, also dass da halt auch ein junges Kind dabei war – und die eine Frau in New York geboren ist und dann – auf welchen Wegen, ich versteh's bis heute nicht, ausgerechnet zurück nach Berlin kam, um dann hier deportiert und ermordet zu werden … Dann wilst Du auch noch mehr wissen. Also ich will immer versuchen bis zu dem Stempel ´Ab heute seid Ihr Juden und keine Berliner mehr´ – ich möchte ihnen wieder … den Berliner zurück geben. Also: Die Geschichte, die sie waren, bevor sie offiziell nur noch ´Juden` waren."

So werden die anfangs abstrakten Opfer von damals zu ihren Nachbarn. Sie will mehr über ihr Schicksal erfahren. Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv lagern die Vermögensakten aus der NS-Zeit – oft die letzten Spuren der Ermordeten. Im Juli 2009 beantragt Anja Akteneinsicht für alle, die in ihrer Straße deportiert wurden. Darüber hinaus will sie endlich mit in Berlin lebenden Juden in Kontakt kommen:

"Es war schon, wie ich überlegt hab‘, wie kannst Du das bewerkstelligen? Es gibt in der Fasanenstr. ja nicht nur die Synagoge, sondern auch so ein Kulturzentrum. Und dann stellste Dich da hin und sagst: Hallo, ich bin Berliner, ich möcht‘ gern jetzt mal `nen Juden kennenlernen. Hat da jemand Lust, sich mal mit mir zu unterhalten? War dann irgendwo auch nicht so die richtige Idee …"

Wie kann man als Deutscher auf Juden zugehen, ohne zu brüskieren? Wo berührt man vielleicht wunde Punkte, ohne darum zu wissen? Und vor allem: Anja will ja gerade über das große Thema sprechen. Aber wie kann der erste Schritt gemacht werden? Lange scheinen Anja die Hürden unüberwindbar:

"Und dann passieren halt manchmal sone Sachen: Als ich angefangen habe
zu studieren, war in meinem Seminar eine, die auch nicht viel jünger war
als ich und aus Israel kam. Und mit der habe ich mich dann angefreundet,
wir haben uns unterhalten und ich hab ihr langsam auch erzählt, dass ich
bei uns die Steine putze."

Ihre Kommilitonin und neue Freundin Ilil studiert in Berlin. Ihre Eltern leben in Tel Aviv und kommen mehrmals im Jahr nach Deutschland. Zwischen den Besuchen hält die Familie regelmäßigen telefonischen Kontakt.

"Und die hatte ihnen erzählt, dass sie mich kennen gelernt hat und dass ich die Stolpersteine bei mir in der Straße putze. Und Ilils Mama ist bekannt mit der Margalit und die beiden Damen haben sich unterhalten und dann hat Ilils Mama das wohl erwähnt. Und dann meinte Margalit: ´Ich hab‘ auch Stolpersteine von meiner Großmutter und meiner Tante. Meinst Du, die könnte das für unsere Steine auch machen, dass sie da hingeht und die putzt?` Die wollten mir auch Geld dafür geben … Und das Schöne war dann, dass die nicht, wie ich befürchtet hatte, in Mitte, oder weit weg, sondern bei mir um die Ecke, fünf Minuten mit dem Fahrrad liegen."

Der Kreis der Nachbarn hat sich erweitert: Endlich sind es nicht nur Tote, deren Namen sie kennt. Mit den Wittenbergs gibt es Angehörige, mit denen sich Anja austauschen kann. Doch trotz des Interesses auf beiden Seiten ist der Anfang nicht leicht:

"Ich bin dann das erste Mal mit meiner Mamma hingegangen und hatte zwei Rosen gekauft und wusste aber auch nicht: ist das richtig? Also ick bin da auch wie jede Deutsche hab ich das Gefühl auf rohen Eiern zu laufen und habe Angst, irgendwo zu doll aufzutreten und alles liegt ringsherum in Scherben. Und wusste dann nicht; legste die nieder, finden sie des irgendwie, ist des nicht richtig, weil es sind ja eigentlich keine Gräber, aber … Ok, aber ich hab mich dann einfach so treiben lassen und hab meiner Mutter gesagt: So, pass auf, und Du machst mal bitte ein Foto von mir, dann wissen die auch gleich mal, wie ich aussehe und dass ich die jetzt hier halt geputzt habe … Also hab schon geschwitzt, als ich das denn losgesendet hatte, weil ich halt nicht wusste, so, wie des ankommt. Du kannst Dich da ja nicht so reinversetzen. Und was ich aber bekommen habe, war eine sehr emotionale eMail, wo drinstand, dass sie es nicht für möglich gehalten hätten, dass es sone Menschen gibt, die sich da, mit diesem Thema so auseinandersetzen würden. Ich glaub‘, sofort danach müssen die eigentlich ihre Flüge nach Berlin gebucht haben, um rüberzukommen, damit wir uns kennen lernen."

Bevor es so weit ist, steht jedoch der Termin zur Akteneinsicht im Landeshauptarchiv an. Jetzt sind weitere vier Akten von der Familie Wittenberg hinzugekommen. Als sie mit ihrem Mann die Fahrt ins Archiv antritt, ist Anja nicht klar, worauf sie sich eingelassen hat:

"Es war genau der 26. Oktober, es war Winter, wie er in Berlin typisch ist, also es ist alles dunkel und grau und nass und kalt. Und oben auf diesem Berg ist dann eine Schneise, wo sone Container stehen, die ich auch noch von der Grenzkontrolle her kannte, kleine Containerhäuser, es ist alles total eng und es sitzen recht viele Leute mit einem Stapel. Ich hatte das auch unterschätzt, also ich wusste ja nicht genau, wie viel des sein würde. Das weißte ja erst, wenn Du vor dieser Akte direkt stehst."

Die Systematik und die Kälte des Vorgangs glaubt sie zu kennen. Aber was es wirklich bedeutet, diese deutschen Formulare in Händen zu halten, ausgefüllt von Menschen an der Scheidegrenze ihres Daseins, unmittelbar vor ihrer Deportation: Die Erschütterung ist nachhaltig:

"Ich war sehr froh, dass mein Mann da war. Du kannst nicht beschreiben,
was das für eine Atmosphäre ist. Du stehst an der Schlucht und jemand
gibt Dir einen Stoß und Du fällst einfach in die Dunkelheit."

Bevor Anja die Akten der Familie Wittenberg übergeben kann, vergehen noch etwa zwei Monate. Doch was das junge Paar in dem Archiv erlebt hat, hinterlässt Spuren:

"Und ich weiß, in diesem Moment, als ich da nach Hause kam und das Licht anschaltete und mich im Spiegel ansah, war für mich det erste, was in meinen Kopf kam: Und gegen diese Dunkelheit setze ich ein Licht! Und da war für mich klar: Ich werde ein Kind haben. Und vier Wochen später war ich schwanger. So, ja, so war das."

Das Paar hatte mit dem Thema eigentlich schon abgeschlossen. Und jetzt – Anja ist 41 Jahre alt – ist es plötzlich, als habe es niemals irgendwelche Fragen gegeben.

"Als mich die Wittis dann das erste Mal in Berlin besuchten, war ich gerade im zweiten oder dritten Monat schwanger. Und klar gabs dann beim Abschied die Aufforderung, das ich jetzt doch den Gegenbesuch antreten sollte. Und dann druckste ich da rum – jaja, nee, wird wohl in nächster Zeit jetzt erst mal nichts werden. Naja, das sind alles gestandene Großmütter. Die guckten mich dann nur einmal schnell von der Seite an und sagten: ´Bist Du schwanger?` Und ich sagte: Ja, ich bin wohl schwanger. Und dann gab‘s ein großes Hallo. Das war sehr schön. Und ich hab ihnen dann auch gesagt, wie es denn kam, dass ich mich dazu durchgerungen hab, dass schon der ausschlaggebende Punkt dieser Besuch in dem Archiv in Potsdam war."

Die Freundschaft zwischen den beiden Familien entwickelt sich rasant. Sie haben häufigen Kontakt per Email und über Skype. Und da gibt es auch immer wieder Reibung bei Themen, wo die Ansichten weit auseinander gehen.

"Wir reden nicht nur, Gott sei Dank, sehr offen über die Zeit des Nationalsozialismus, sondern halt auch über die Situation, wie sie jetzt in Israel ist. Ich hab zuerst gesagt: Lass uns darüber nicht reden, da sind wir irgendwie zu weit auseinander. Aber Du kannst, genau so wie diese Zeit, kannst Du auch die aktuelle Situation nicht außen vor lassen. Und jetzt haben wir uns halt angewöhnt: Ja wir reden drüber. Und das ist auch manchmal recht laut. Aber es wird auf den Tisch gebracht. Und das ist wichtig, dass darüber geredet wird."

Für Anja ist es gerade diese Offenheit, die der Beziehung Wirklichkeit gibt: Dass sie nicht aussparen müssen, was unbequem ist. Dass sie sogar streiten können. Über den tiefen Abgrund der Geschichte hinweg. Das vielleicht Schönste für alle Beteiligten ist aber die Unbeschwertheit der jüngsten Generation. Anjas kleine Tochter heißt Marlene - eine Liebeserklärung an die Dietrich mit ihrer klaren Haltung gegen das Nazi-Deutschland. Es ist dieser klare Kompass, den Anja ihrer kleinen Tochter gern für das ganze Leben mitgeben will. Als die kleine Marlene mit zwei Jahren getauft wird, reist die ganze jüdische Familie von Israel nach Berlin. Mit dabei ist auch der fünf-jährige Yoav.

"Jetzt, so wie sie ist, dass dann auch sich gleich der jüngste Enkelsohn in meine Marlene verliebt hat, als er das erste Babyfoto von ihr gesehen hat. Und als der denn wirklich jetzt hier im Sommer in Berlin war, die zwei Händchen haltend durch den Schlosspark Sanssouci gewandert sind, wo meine Tochter vorher noch nie bei irgendwem Händchen gehalten hat. Also da passieren so viele wunderbare Sachen und die kommen alle aus diesem dunklen, tödlichen Morast. Und auf einmal wächst da `ne Rose. Das ist, das finde‘ ich immer noch. Das ist unvorstellbar."

Anja & Marlene Bukschat
Keren: "He wants to show you the flag!"
Anja: "Ohh, Guck mal das ist die israelische Fahne, was ist da in der Mitte drauf – ein ..."
Marlene: "Stern!"
Anja: "Ein Stern, genau – ein sehr schöner Stern!"
Anja: "Mit wem hast Du grad gesprochen?"
Marlene: "Mit Yoav."
Anja: "Und mit der?"
Marlene: "Keren."
Anja: "Und wo leben die?"
Marlene: "In Tel Aviv!"
Anja: "Und hast Du Shalom gesagt?"
Marlene: "Ja!"
Anja: "Was hast Du gesagt?"
Marlene: "Bye Bye!"
Anja: "Und?"
Marlene. "Bye Bye!"
Anja: "Bye Bye!"
Anja: "Und?"
Marlene: "Shalom!"
Anja: "Was hat der Yoav Dir alles gezeigt?"
Marlene: "Den Bären und den Hund und den Fisch!"
Anja: "Und was dann Marlene dem Yoav gezeigt?"
Marlene: "Den Vogel!"
Anja: "Ist der Yoav Dein Freund?"
Marlene: "Ja! Yoav ist mein Freund!"


Musik: Marlene Dietrich – Ich hab noch einen Koffer in Berlin
Mehr zum Thema