Gegen die schlechte Laune der Hauptstadt

Annemie Vanackere ist die neue Intendantin des HAU in Berlin
Annemie Vanackere ist die neue Intendantin des HAU in Berlin © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Von Tobi Müller · 01.11.2012
Das Hebbel am Ufer in Berlin Kreuzberg gehört zu den wichtigsten und innovativsten Theatern in Deutschland. Unter Annemie Vanackere, Nachfolgerin des langjährigen Intendanten Matthias Lilienthal, wurde nun eine heitere Neueröffnung gefeiert.
Bevor es losgeht, weiß man heutzutage immer schon die Hälfte. Pressekonferenz, Vorberichte, Interviews. Bei der Ernennung von Annemie Vanackere als Intendantin des HAU war das nicht anders. Man muss jeweils viel über das Erbe ihres Vorgängers sprechen, über die neun Jahre von Matthias Lilienthal. Vanackere bleibt ruhig, liebt Lilienthal wie alle anderen, und betont dennoch stets den einen Punkt, um sich bereits ein bisschen von Don Matteo zu emanzipieren: Sie wolle auch Kunst zeigen können, die niemandem nützen müsse, also auch nicht den Repräsentantionsbedürfnissen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder Ethnien. Es ist ein Bekenntnis zur Autonomie der Kunst, jenseits ihrer Verwertung auch als kulturelles Kapital. Vanackere hat das noch einmal betont zur späten Eröffnung ihrer Intendanz, nach der Begrüßung durch Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin.

Wie kann bei dieser Art der konzeptionellen Vorventilierung noch ein Ereignis stattfinden, wenn das heißt: etwas Überraschendes, das in der Vorstellung den medialisierten Sinnrahmen für kurze Zeit überschreitet? Kann man das hinter sich lassen, wenn eine Kollegin Vanackere im Radio über eine der vielen Eröffnungsarbeiten reden hörte und ihr Urteil danach schon gemacht war, weil das so furchtbar klang?

Die Antwort: teilweise ja. Auch wenn es in Europa bereits viele Festival-Gelegenheiten gegeben hätte, um "Disabled Theater" des französischen Choreografen Jérôme Bel mit den geistig behinderten Spielern des Zürcher Theater Hora zu sehen, innerhalb des Eröffnungstableaus wirkt auch diese schöne, klare Arbeit vor allem: heiter. Das ist im Grunde verboten in Berlin, da macht man sich rasch der Oberflächlichkeit verdächtig. Das ist das Ereignis der HAU-Eröffnung, die wahrscheinlich noch nicht mal beabsichtigte Provokation in einer Stadt, in der schönes Licht oft reicht, postdemokratischen Ästhetizismus zu wittern.

Es fängt mit sämtlichen Räumen an, welche die Bühnenbildnerin Janina Audick deutlich aufgefrischt hat (Audick, eine Dame aus den Stahlgewittern der Volksbühne erschaffen). Im HAU 1 sind die Wände unglaublich hell, unterbrochen von giftigem Pastell. In der Bar liegt ein absurd farbiger Teppich, eine Art Parodie auf den Mondrian-Modernismus, an der hohen Decke eine Lichtröhrenlampe, als hätten Kinder Bruce Nauman nachgebaut. Herrlich verspielt!

Auch im HAU 2 herrscht nicht mehr Dämmerung, sondern künstliches Morgenlicht aus Plastiklampen. Und der Schriftzug auf Website und Papiersachen ist nun hellblau, nicht rot und schwarz. Das wäre alles nicht so wichtig, wenn die Eröffnung nicht auch auf der Bühne ein deutliches Zeichen setzen würde. Die holländische Theatergruppe Wunderbaum kommt als Tourist in die Stadt, macht das zum Thema und landet damit enorm unangestrengt mitten in einem präsenten Berliner Diskurs.

"Visions out of nothing" ist eine Revue. Vor ein paar Monaten haben die Wunderbaums auf der Straße Berliner und Touristen gefragt, was sie auf einer leeren Bühne sehen möchten, wenn der Vorhang aufgeht. Genau das spielen sie dann auch. Diese Jukebox läuft natürlich ständig aus dem Ruder, wird peinlich oder ins Gegenteil verkehrt. Von sehr spielfreudigen, na: man muss hier Schauspielern schreiben, nicht Performern, begleitet von der Band Touki Delphine. Wir sehen also nicht nur eine Nummer über Gentrifizierung, sondern auch eine Lion-King-Parodie mit kurz davor gecasteten afrikanischen Trommlern. Das geht: Abgründe auftun und dabei beste Laune behalten. Die Anmutung bleibt leicht hippiesk, vielleicht so, wie man in der legendären Techno-Bar 25 Theater gemacht hätte, wenn man denn gewollt hätte (und die Absturzkultur noch genügend Brainpower zur Verfügung gestellt hätte). Auf den Bühnen Berlins ist diese Leichtigkeit erstmal: fremd. Toll!

Dann also auch in der Hauptstadt einer der Abräumer der Festivalsaison: Geistig Behinderte auf der Bühne. "Disabled Theater" kann bedeuten: Theater mit Behinderten, aber auch Theater, das aus den Angeln gehoben wird,
dysfunktional wird. Jérôme Bel will natürlich beides. Der Abend spielt mit der Erwartung, hier eine Freakshow zu sehen, er spricht sogar darüber. Die elf Spieler erzählen über die Art ihrer Behinderung auf Schweizerdeutsch und werden dabei jedes Mal fast betulich trocken übersetzt (auf Deutsch, auf Englisch). "Miini Behinderig isch...", "My handicap is....": Spätestens beim sechsten Mal ist das bereits komisch, auf für Nicht-Helveten.

Wir hören also von Spielern mit Down Syndrom, dass sie das Down Syndrom haben, das habe der "Dokter Down" halt mal entdeckt. Man könne aber auch Trisomie 21 sagen. Gianni Blumer sagt, seine Behinderung sei vor allem, dass er sich immer die Finger in den Mund stecken würde, und zwar so. Dann kommt Lorraine Meier und sagt: "Ich bin ein Mongo. Und es tut mir auch weh." Sie weint jetzt vorne am Mikrofon. Es ist totenstill im Theater. Lorraine geht zurück zu ihrem Stuhl. Und hat einen Lachanfall. Ihre Tränen waren höchstwahrscheinlich falsch. Sie hat das Publikum getäuscht.

So scheinbar einfach der Abend abläuft – Vorstellungsrunde, Behinderung, Solo tanzen, Abend bewerten, Schlussapplaus –, so komplex switcht er zwischen den Selbstreflexionen der Behinderten und auch direktem Hedonismus und Spaß aller Beteiligten. Es gibt ein paar Tricks, wie man dazu gezwungen wird, die Spieler zu bewerten. Wie man nicht umhin kommt, das Ensemble nicht mehr einzig über die Behinderung zu definieren, sondern über deren spezifische Qualitäten. Spätestens nach einer Stunde hat man sich dann sogar in Berlin getraut, laut zu lachen. Wie sie den Abend fand, wurde auch Sara Hess gefragt. Sie sagte: "Schpeziell."
Intendant Matthias Lilienthal im Foyer des Theater Hebbel am Ufer, Berlin
Neun Jahre lang war Matthias Lilienthal Chef am Hebbel am Ufer.© Theater Hebbel am Ufer, Georg Knoll
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