Gegen die Geschichtsklischees

Rezensiert von Klaus Möllering · 02.05.2010
In seiner Darstellung der Geschichte der Reformation möchte der Autor Thomas Kaufmann seine Leser von der Vorstellung befreien, dass allein Martin Luther die Reformation erdacht, die Spaltung der Kirche geplant und eine eigene Konfession begründet hat.
Thomas Kaufmann hat sich mit seiner gründlichen Darstellung der Geschichte der Reformation vorgenommen, uns von einem Geschichtsklischee des letzten oder gar vorletzten Jahrhunderts zu befreien: Der Vorstellung nämlich, dass Luther als zentrale Heroengestalt dieser Zeitenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit die Reformation erdacht, die Spaltung der Kirche geplant und dann fest entschlossen die Gründung lutherischer Kirchen durchgeführt habe.

"Dass die Tragweite der Konflikte, die Luther mit seiner Kritik am Ablass auslöste, ihm erst allmählich deutlich wurde, hing mit seinem eigenen Rollenverständnis zusammen; denn er wollte Schaden von seiner Kirche, die er durch den Ablasshandel bedroht sah, abwenden. Ein willentlicher 'Brandstifter' war Luther nicht, auch wenn sich aus dem Ablassstreit ein Flächenbrand entwickelte, der die Einheit des abendländischen Kirchentums dauerhaft zerstören sollte."

Aber längst nicht alles hing an Luther, wird deutlich aus Kaufmanns umfassender und sorgfältiger Zusammenstellung von Vorgeschichte und Voraussetzungen der Reformation, der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie begünstigten und der politischen Interessenlage, die sie beschleunigte: Nämlich der Machtverschiebung von der kaiserlichen Zentralgewalt zu den diversen deutschen Regionen und ihren Fürsten. Was der Humanismus und seine Hauptfigur Erasmus von Rotterdam zur Auseinandersetzung beitrugen.

Wie aus einem ursprünglich theologischen Schlagabtausch in den üblichen akademischen Bahnen plötzlich ein kirchen- und machtpolitischer Grundsatzkonflikt mit enormer Sprengkraft wurde, der sich mit Hilfe zahlreicher theologischer Mitstreiter und mit Flugblättern und Kampfschriften dank der zeitgleichen Medienrevolution rasch überall hin ausweitete. Wie die Grausamkeiten der Bauernkriege, die Bedrohung durch die stetig heranrückenden Türken, wie die Abgrenzung von Täufern und Schwärmern der Entwicklung ihre jeweilige Wendung und Dynamik gaben – all dies stellt Kaufmann zusammen zu einem großen, einleuchtenden Gesamtbild.

Wer verstehen will, warum eine Welt zerfiel in den wenigen Jahrzehnten zwischen Luthers Thesenanschlag 1517 in Wittenberg und dem 1545 eröffneten Konzil von Trient, das weder die kirchliche, noch die politische Einheit wieder herstellen konnte, der findet hier alles, was man wissen muss um zu verstehen, dass viele Anstöße dieser Epochenwende unsere Gesellschaft und Kultur bis heute wesentlich geprägt haben.

Interessant wird diese Gesamtschau auf dem Stand der heutigen Forschung jedoch gerade durch manche gegenläufigen beziehungsweise unerwarteten Feststellungen:

"'Das Mittelalter' ist auch unter spezifischen Brechungen in Reformation, Gegenreformation und konfessionellem Zeitalter weitergegangen. Bestimmte Elemente des kirchlichen Lebens wie der Gebrauch der Kirchengebäude, ihrer Ausstattungsstücke und liturgischen Geräte, die Parochialstruktur, der Pfarrzwang, das heißt die Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ortsgemeinde nach Maßgabe der Wohnadresse, auch patronatsrechtliche Sachverhalte und anderes mehr sind noch im deutschen Protestantismus des 21. Jahrhunderts 'mittelalterlich'."

Auch dass seine Verurteilung als Ketzer Luther erst zu einer populären Mediengestalt machte und zu einem weithin umso beliebteren religiösen Volksschriftsteller, gehört zu diesen unerwarteten Erkenntnissen.

An Luther selbst (der dann doch eine Schlüsselgestalt bleibt, entgegen Kaufmanns Ansatz, dass doch Etliches so viel mehr zum Erfolg der Reformation beitrug als nur Luther) lernt man ebenfalls einige überraschende Seiten kennen. Zum Beispiel war der Reformator ursprünglich keineswegs der später zu grausamen Ausfällen gegen die Juden neigende Polemiker:

"Will man ihnen (den Juden) helfen, so muss man nicht des Papstes, sondern christlicher Liebe Gesetz an ihnen üben und sie freundlich annehmen, mit lassen werben und arbeiten, damit sie Ursach und Raum gewinnen, bei und um uns zu sein, unser christliche Lehre und Leben zu hören und sehen. Ob auch etliche halsstarrig sind, was liegt dran? Sind wir doch auch nicht alle gute Christen."

Die Frauen, die besonders in den turbulenten ersten Jahren der reformatorischen Umwälzungen mit eigenen Äußerungen und eigenem Profil hervortraten, nimmt Kaufmann in dem Abschnitt "Reformation der Alltagswelt" in den Blick. Zu ihnen gehört Katharina Zell, die nicht nur eine kluge Theologin war, sondern auch die neue Rolle der "Pfarrfrau" erfand – und zwar als …

" … modellhafte Verwirklichung der Nachfolge Christi. Für Katharina Zell war das 'Amt' als Pfarrfrau ein Rollenkonzept, in dem sich der durch die Reformation vollzogene Wandel ihres Selbstverständnisses existentiell konkretisierte. Dass sie einen Mann aus dem Priesterstand 'genummen' hatte, war ihr Beitrag zur Rettung ihres Gemahls und vieler anderer Seelen."

Man merkt an solchen Stellen leider Kaufmanns bisweilen etwas akademische Sprache. Aber man merkt auch seine akademische Sorgfalt, wenn er nicht vergisst darauf hinzuweisen, dass schon nach kurzer Zeit und in der nächsten Generation der Spielraum für die Frauen wieder beschnitten wurde und …

" … dass vieles der Offenheit, das der Reformatorengeneration in Bezug auf abweichende Gedanken, nonkonformistisches Verhalten und intellektuelle Liberalität möglich oder selbstverständlich gewesen war, bei den in der Mitte des 16. Jahrhunderts tonangebenden Jüngeren unter Häresieverdacht geriet."

Unter den geriet dann später eben auch Katharina Zell. Zusammenwirken und Differenzen zwischen den unterschiedlichen Strömungen der Reformation und ihren prominenten Vertretern werden einleuchtend dargestellt. Und immer wieder kommen diese auch in ihren eigenen Worten vor - auch wenn die Wortgewalt der Akteure ungleich verteilt ist:

"Auf einer Tischplatte notierte Luther einmal mit Kreide: Bei Melanchthon stimmen die Sache und die Worte, bei Erasmus die Worte, aber die Sache nicht, bei Luther die Sache, aber die Worte nicht, bei Karlstadt stimmen weder Worte noch Sache."

Ja, Melanchthon kommt ganz gut weg bei Kaufmann, Luther sowieso und auch der Züricher Reformator Zwingli. Aber dass eine prägende Reformatorengestalt wie Johannes Calvin mit der Reformation, die von Genf ausging, in dieser "Geschichte der Reformation" faktisch überhaupt nicht vorkommt, ist unverständlich. Da bleibt dieses Werk von knapp 1000 Seiten, trotz des guten Überblicks, den es eigentlich sonst bietet, leider dann doch unvollständig.

Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation
Insel Verlag, Berlin 2009
954 Seiten, 48 Euro