Gegen Antisemitismus

Zeit für neue Proteste in Leipzig

Stolpersteine erinnern in Leipzig an Bürger, die den Verbrechen der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.
Stolpersteine erinnern in Leipzig an Bürger, die den Verbrechen der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. © dpa / picture alliance / Hendrik Schmidt
Von Jennifer Stange · 08.11.2018
Vor 30 Jahren organisierten junge Leipziger die erste unabhängige antirassistische Demonstration in der DDR. Damals wie heute mit dabei ist die Aktivistin Gesine Oltmanns. Mit dem Initiativkreis 9. November erinnert sie dieser Tage an die Reichspogromnacht.
Leere Stühle aus Bronze verschraubt auf einem Betonplateau erinnern an die Menschen, die deportiert und ermordet wurden. Ringsherum Gesträuch, eingerahmt von einer kniehohen Mauer, die den Grundriss der im November 1938 zerstörten Großen Gemeindesynagoge im Leipziger Zentrum nachzeichnet. Vor 30 Jahren sah es hier ganz anders aus.
"Hier erinnerte eigentlich nur ein Gedenkstein an die alte Synagoge, der war im Vorrübergehen vielleicht, aber der wurde nicht wirklich als Gedenkstätte von den Leipzigerinnen und Leipzigern wahrgenommen."
Gesinen Oltmanns sieht heute beinahe noch immer so aus wie damals. Langes offenes Haar, feine Gesichtszüge, zierliche Gestalt. Man würde sie nicht gleich an vorderster Front erwarten. Doch Gesine Oltmanns hat Geschichte geschrieben. Im September 1989 berichtet die Tagesschau erstmals über die Proteste in Leipzig und zeigt eine Szene, wie zwei Frauen für wenige Sekunden ein Laken entrollen auf dem steht: "Für ein offenes Land mit freien Menschen". Zwei Männer von der Staatsmacht reißen es ihnen sofort aus den Händen. Eine der Frauen ist Gesine Oltmanns. Sie kennt sich da schon aus mit Protest in der DDR. Eine ihrer ersten Aktionen endet am 9. November 1988 auf dem Platz der ehemaligen Synagoge.

"Unser Wille war, dieses Thema zu benennen"

"Unser Wille war, dieses Thema zu benennen. Weil den Rassismus, den wir erlebten, unerträglich fanden. Gegenüber Polen, gegenüber Gastarbeiterinnen aus Vietnam, gegenüber Leuten aus Afrika, die zu uns kamen um zu arbeiten und zu studieren."

Sie erinnert sich an ein Dorffest in der sächsischen Provinz, als sie noch Schülerin war: Mit Gläsern und Flaschen haben Einheimische damals kubanische Gastarbeiter von dort vertrieben. Als Gesine Oltmanns nach Leipzig zieht, trifft sie Gleichgesinnte, sie wird Teil einer Subkultur aus der später die Bürgerbewegung erwächst. Im sozialistischen Osten Deutschlands fühlt sie sich nicht nur von der Stasi, sondern auch von rechts bedroht.
"Wir haben in Leipzig immer mehr Überfälle gehabt, Freunde von uns hatten ein Nachtcafé, ein illegales Nachtcafé, um sich zu treffen. Und in Reudnitz gab es damals die Reudnitzer Rechten, die permanent uns in dem Nachtcafé überfielen."
Und eindeutige Botschaften hinterlassen: Sie brüllen "Sieg Heil" und schmieren "Juden raus!" an die Wände. Offiziell gibt es in der DDR keine Neonazis. Wo der Antifaschismus an der Macht ist, so die simple Logik, kann es sowas nicht geben. Das ist Geschichte.
Offizieller Gedenktag ist er 9. November in der DDR dennoch. Allerdings, so schreibt Historiker Harald Schmidt, sei er vorwiegend als Medium der Anklage gegen die "faschistische Bundesrepublik" einerseits und anderseits zur Heroisierung der "Opfer des Faschismus", vor allem der "deutschen Kommunisten" und der "deutschen Arbeiterklasse" genutzt.
"Wir protestieren gegen neonazistische Tendenzen im Denken und Handeln einiger Menschen dieses Landes."

Durch Zufall entdecken sie das Flugblatt von 1988

Diese Zeilen stehen in dem Flugblatt, das Gesine Oltmanns und ihre Freunde 1988 vor dem Pogrom-Gedenken auf den Bänken der Nikolaikirche auslegten. Der Aufruf zu einem Protestzug.
"Das war natürlich auch für uns sehr aufregend. Wie würde die Kirche damit umgehen, wie würde der Staat damit umgehen? Würden wir jetzt aus der Kirche herauskommen und sofort verhaftet werden? Keiner wusste es."
30 Jahre später. Im Kunstverein im Kolonnadenviertel trifft sich Gesine Oltmanns seit ein paar Monaten mit alten und neuen Mitstreitern. Sie wollen zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome ein Zeichen setzen. Rebecca Rahe, 27 Jahre, ist eine von ihnen. Durch Zufall stießen sie und ihre Freunde auf das Flugblatt von 1988.
"Damals haben die jungen Leipzigerinnen und Leipziger, mutige Bürgerinnen darauf hingewiesen, dass das Gedenken eben auch mit der Verantwortung für das heute einhergeht, und wir haben das eben auch als Inspiration genommen - diesen Mut der Leute damals - heute zu sagen, wir gehen als Leipzigerinnen und Leipziger auf die Straße, zeigen Gesicht für eine offene Gesellschaft."
Und für eine Gesellschaft gegen rechts. Was damals vor 80 Jahren geschah, Attacken auf offener Straße gegen Leipziger Jüdinnen und Juden, geplünderte und zerstörte Geschäfte, daran will der Initiativkreis 9. November mit einer Demonstration erinnern.
"Und dann passiert eben diese Brücke zum heute, dass die CDU-Landesregierung in Sachsen beispielsweise die Hetzjagden auf Migrantinnen in Chemnitz aktiv verharmlost hat und auch weiterhin Projekte, die sich Rassismus und Antisemitismus entgegen stellen, nicht ausreichend finanziert bzw. sogar in ihrer Arbeit behindert."
Erinnert werden soll aber auch an den Protest vor 30 Jahren.
Oltmanns: "Für uns war es verblüffend, für mich ganz speziell, dass junge Leute dieses Flugblatt gefunden haben und haben gesagt: Na hoppla, das sind ja Themen, die sind heute so aktuell wie damals. Und wenn man jetzt den Text liest den habe ich im Nachgang jetzt erst nochmal gründlich gelesen, hab ich auch gedacht und es ist mir kalt den Rücken runtergelaufen, das ist ja wirklich was, was sich wenig verändert hat."
Die Demonstration vor 30 Jahren geht damals übrigens gut aus. Ein Schweigemarsch von etwa 150 Menschen zieht am Abend des 9. November 1988 von der Nikolaikirche quer durch die Innenstadt zum Platz der ehemaligen Synagoge. Gesine Oltmanns hofft, dass heute Abend noch viel mehr Menschen kommen werden als damals.
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