Gefühlsaufruhr im Gebirge

03.06.2008
Eine Frau hat das kleinbürgerliche Eheleben satt und flieht zur Kur in einen mondänen Gebirgsort. Als ein unbekümmerter junger Schauspieler sie umwirbt, scheint der Fortgang der Geschichte vorhersehbar. Doch da Gabriela Zapolskas Roman "Sommerliebe" eine boshafte Gesellschaftsstudie erster Güte ist, kommt alles anders.
Endlich genießt auch sie die Segnungen der Sommerfrische. Weil der Arzt ihr einen Kuraufenthalt im Gebirge verschrieben hat, entflieht sie dem kleinbürgerlichen Eheleben in Warschau mit seiner ewigen Geldnot und gibt sich den Aufregungen in einem mondänen Gebirgsort hin. Zumindest hofft sie hier, am Rande der Hohen Tatra, auf eine Wandlung ihres biederen Daseins, einen befristeten Aufstieg in die besseren Kreise.

Das Abenteuer stellt sich dann, ganz unerwartet, in Gestalt eines unbekümmerten jungen Mannes ein, eines Schauspielers, der hartnäckig um sie zu werben beginnt. Unversehens erlebt die nicht mehr ganz junge Ehefrau und Mutter, die niemals Erotik und Begehren kennengelernt hat, ein Chaos aus Gefühlen und Leidenschaft.

Gabriela Zapolska (1856 - 1921) erzählt von diesem Aufruhr inmitten der romantischen Bergwelt einfühlsam und gleichermaßen distanziert. Sie würzt den Ausflug in die Innenansichten der Seele mit feinen Landschaftsbeschreibungen voller impressionistischer Naturmetaphorik. Begleitet von genauen, hochkomischen Beobachtungen alltäglicher Begebenheiten und Verhältnisse, schildert sie den Weg in den Ehebruch als unausweichlich.

Dass der dann doch nicht stattfindet, ist ihrer subtilen Kenntnis der Gemütslage ihrer Heldin zu verdanken. Anders als die großen Opfer des bürgerlichen Moralempfindens dieser Epoche wie Effi Briest etwa, hängt Zapolskas Hauptfigur einer Krankheit ihrer Zeit an, dem Standesdünkel, der Doppelmoral und der Neigung, den materiellen Schein zum Maßstab des Lebens zu machen.

Davon kann sie sich letztlich, trotz Hingabe an ihr Liebesempfinden, nicht befreien. Damit zeigt sich Gabriele Zapolska als hochmodern, auch in ihrer ausgeprägten Fähigkeit, der männlichen Psyche mit Verständnis - und Ironie zu begegnen. Obwohl sie eine bekannte und viel gelesene Autorin ihrer Zeit war, allein in Deutschland erschien 1921 eine neunbändige Ausgabe ihrer Romane, ist sie für uns heute eine lohnende Neuentdeckung. Denn mit ihrer "Sommerliebe" hat sie eine wahrhaft amüsant zu lesende, boshafte Gesellschaftsstudie erster Güte geschrieben.

Sie verfügte über viele Talente, schrieb Romane, Novellen, Dramen, sie war Schauspielerin und Journalistin. Die Autorin wusste, wovon sie schrieb. Sie war lange in einer ähnlichen Verbindung gefangen, nachdem sie sich, die Tochter eines Großgrundbesitzers aus einer standesgemäßen Ehe befreit hatte, um sich einer wandernden Schauspielertruppe anzuschließen.

Sie verliebte sich in den Intendanten ihres Theaters, bekam ein (uneheliches) Kind von ihm und begann zu schreiben. Schon ihr erster Roman "Käthe, die Karyatide" (1888), der eine Dienstmagd zur Heldin hatte, wurde zum Erfolg. Während eines fünfjährigen Aufenthalts in Paris führte sie das Leben einer Bohemienne, und sie betrieb, wie Hannelore Schlaffer in einem kundigen Nachwort darlegt, in der Praxis des Neurologen Jean-Martin Charcot Studien über die weibliche Psyche.

Genau dort übrigens, wo auch Sigmund Freud seine ersten Erkenntnisse über die Hysterie gewann. Nicht zuletzt dank dieser Schulung verfügt Gabriela Zapolska über erstaunliche Einsichten in die Abgründe der Seelenkunde.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Gabriela Zapolska: Sommerliebe
Aus dem Polnischen übersetzt von Karin Wolff
Roman. Manesse-Verlag, Zürich/München 2008
720 Seiten, 24,90 Euro