Gefangen in eiskalter Schwärze

08.11.2010
"Seelenriss" verstört. Ines Geipel zeichnet in einzelnen Essays die Familiengeschichten von Menschen nach, die an schweren Depressionen erkrankt sind: vom Fußballprofi Robert Enke bis zur Arbeitertochter Rosa Schramm. Die Autorin kommt diesen Menschen sehr nah. Akribisch, einfühlsam, mit einer bildhaften, oft erschütternd schönen Sprache legt sie die Geschichten frei und setzt diese in Bezug zu zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen.
Linien werden sichtbar, werden zu Mustern, die die eiskalte Schwärze, die Verlorenheit, das in sich selbst Gefangensein und die Sprachlosigkeit der Erkrankten verständlich machen. "Du erfährst, dass es mehr gibt als das, was du siehst, dass da etwas hinter der Sprache besteht und es vor allem darum geht, das anwesend zu machen", sagt Yvonne Gebhardt, eine der porträtierten Personen.

Ines Geipel liefert Erklärungen für das "stumme Innewerden", die oft weit zurückreichen. Da sind etwa die von Gewaltexzessen der Weltkriege Traumatisierten, die ihre seelischen Wunden ins Private tragen. Unbearbeitet wurde dieses seelische Erbe im Wirtschaftswunderland BRD und in der Arbeiter- und Bauerndiktatur DDR weitergegeben. Die Folgen sind bis heute fühlbar.

Schmerz und seelische Verletzungen werden auch im wiedervereinigten Deutschland aus Furcht vor Wettbewerbsnachteilen verdrängt, behauptet Geipel. Außerdem sei die Psyche von neuen Gefahren bedroht: Arbeitsverdichtung in der grenzenlosen, digitalen Welt. Ständige Erreichbarkeit und Beobachtung in den neuen sozialen Netzwerken. "Die Zeitstruktur des flexiblen Regimes der Wirtschaft dringt immer tiefer in intime Binnenwelten von Beziehungen und Familien ein und zehrt auf invasive Weise Identität und Psyche auf."

Ines Geipel hat Fachliteratur ausgewertet und mit Experten gesprochen. Sie belegt ihre Thesen durch Daten. Laut AOK-Studie vom Juli 2010 ist die Zahl der Fehltage durch psychische Erkrankungen in den vergangenen zwölf Jahren um fast 80 Prozent gestiegen. 2007 begründete jeder Dritte seinen Ausstieg aus dem Beruf mit hartnäckigen Depressionen.

Ähnlich wie im Hochleistungssport gibt es inzwischen auch in den "normalen" Bereichen der Gesellschaft einen Systemzwang zum Doping. Ines Geipel schreibt, dass derzeit ein Fünftel der deutschen Arbeitnehmer von ihren Chefs aufgefordert wird, zu Psychopillen zu greifen, weil sie dem Druck im Job nicht mehr standhalten können.

"Seelenriss" ist lesenswert. Nicht nur, weil verletzte Seelen analysiert werden. Im zweiten Teil bietet das Buch eine fundierte Sozialgeschichte der Volkskrankheit. Ines Geipel unterscheidet zwischen den verschiedensten Merkmalen und Ursachen dieser komplexen Erkrankung. Manchmal schreibt sie vielleicht ein wenig zu blumig. Aber sie macht Mut, weil sie in der Kombination von Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Medikation neue Wege zur Überwindung von Depressionen sieht.

Besprochen von Thomas Jaedicke

Ines Geipel: Seelenriss. Depression und Leistungsdruck
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010
239 Seiten, 18,95 Euro