"Gedichtzeile ist ideale Verpackungsgröße für Information"

Raoul Schrott im Gespräch mit Joachim Scholl · 08.08.2013
Der Schriftsteller Raoul Schrott hat ein opulentes Buch zum Thema "Gehirn und Gedicht" verfasst. Ein Gedicht sei ein Klangereignis, eine besondere Melodie, ein Rhythmus - ideal für unser Hirn. Auch die Alltagssprache benützt die Möglichkeiten der Poesie, wissen Neurologen.
Joachim Scholl: Unser "Lyriksommer" hier in Deutschlandradio Kultur ist in vollem Schwung – allenthalben Poesie im Programm, und jetzt freuen wir uns, dass der Schriftsteller Raoul Schrott bei uns zu Gast ist. Er beherrscht nicht nur die Lyrik, sondern so ziemlich alle literarischen Genres so souverän, dass man ihm praktisch jede ästhetische Frage stellen kann. Heute soll es aber um einen Komplex gehen, dem Raoul Schrott ein ganzes opulentes Buch gewidmet hat: Zusammen mit dem Psychologen Arthur Jakobs hat er den Band "Gehirn und Gedicht" verfasst. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Raoul Schrott.

Raoul Schrott: Schönen Tag wünsche ich Ihnen.

Scholl: Zu Beginn ein wenig Poesie. Obacht:

Ein Gedicht, aus Worten gemacht.
Wo kommen die Worte her?
Aus den Fugen wie Asseln,
Aus dem Maisstrauch wie Blüten,
Aus dem Feuer wie Pfiffe,
Was mir zufällt, nehme ich […]

So hat einst die Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz gedichtet. Herr Schrott, was lösen denn diese Worte in Ihrem Gehirn aus?

Schrott: Verschiedenstes, vor allen Dingen Metaphorisches. Und Metaphorisches heißt in diesem Fall, zu beachten eine ganz grundlegende Bedingung unseres Denkens, wie man sagen könnte, dass Worte eigentlich für sich nichts heißen, sondern dass Worte eigentlich jetzt bildlich gesprochen nur Etiketten sind, die wir, die unser Gehirn mit den verschiedensten Erfahrungen vollfüllt. Worte sind also quasi nur leere Flaschen, leere Behälter, die wir durch die verschiedensten Assoziationen – das, was wir also mit Pfiffen verbinden, mit Asseln verbinden, mit Mais verbinden –, denen wir dadurch quasi Fülle, Raum, Gehalt, Idee und Sinn verleihen. Und das ist ein äußerst komplexer Prozess, den wir von Kindheit an lernen.

Denken Sie nur daran, dass das, was wir lesen und das, was wir mit den Worten verbinden, eigentlich durch eine dreifache Assoziation miteinander verbunden ist. Das heißt, denken Sie sich ein Wortbild, da sieht ein Buchstabe aus wie eine Schlange, der nächste wie ein Halbmond, der nächste wie ein Stück Leiter. Das verbinden wir mit einem Objekt aus Hartgummi und weichem Plastik, und das wiederum verbinden wir mit einer Lautung, die Schnuller heißt. Alle drei Dinge haben miteinander absolut nichts zu tun. Das SCH nichts mit Schnuller und die Aussprache nichts mit dem Objekt, das sind letztlich metaphorische Verbindungen, die genau so willkürlich, könnte man oder würde ein Logiker sagen, die genau so willkürlich erscheinen, auf der anderen Seite aber so konditioniert sind wie das Verhältnis von Worten zu Mais, zu Asseln, zu Pfiffen, mit denen Sie Ihre Einleitung gemacht haben. Das heißt, Metaphorik ist eine grundlegende Bedingung unserer Welterfahrung.

Scholl: Jetzt haben Sie diese Differenz zwischen dem lyrischen Wort und dem normalen Wort schon wunderbar erklärt, Raoul Schrott. Sie haben sich aber da in Zusammenarbeit mit Ihrem Kollegen Arthur Jakobs ja wirklich auch über Hirnphysiologie gebeugt. Und jetzt noch mal zurück auf die Metapher: Wie erkennt mein Gehirn denn eine Metapher, oder noch konkreter, was tut sich da in welchem Winkel meines Hirns?

Schrott: Ja, das ist zum einen etwas falsch gedacht, weil wir keine besonderen Areale für so etwas haben, und zum anderen, der Punkt, den ich eigentlich machen wollte, ist, dass es keinen Unterschied gibt zwischen metaphorischer und alltäglicher Sprache. Und Sie müssen sich jetzt nur überlegen, die nächsten Sätze, die wir sagen, da steckt in jedem dritten Wort eine Metapher, von der wir vergessen haben, dass sie welche sind. Beispiel anfangen – was fange ich, wenn ich anfange? Selbst die höchsten sozusagen Vokabeln für die intelligentesten Geistestätigkeiten, das Wort verstehen, beispielsweise: Was steht da? Das kommt eigentlich von "vorstehen", wobei uns noch völlig unklar ist, was davor steht, ob man vor etwas steht, ob man heraussteht – die Engländer sagen "understanding", die stehen unter etwas.

Warum und wieso, den eigentlichen Grund für diese Metapher haben wir genau so vergessen wie, woher Nachhaltigkeit kommt oder woher Reichweite kommt. Also unsere Sprache besteht im wesentlichen aus Metaphorik und Poesie, eine ihrer Funktionen ist, diesen Gedankenspielraum, der eigentlich unser kognitives, unser Denkinstrument wesentlich ist, diesen Gedankenspielraum immer wieder zu erneuern, zu erweitern, auf neue Bereiche zu übertragen, vom Bergfuß bis zum Tischbein.

Scholl: Der "Lyriksommer" im Deutschlandradio Kultur – heute ist der Dichter, Romancier, Essayist, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott mit uns im Gespräch. Es waren drei ganz einfache Fragen, Herr Schrott, mit denen Sie dann dieses gewaltige Buchprojekt "Gehirn und Gedicht" begonnen haben. Die erste hieß, verkürzt: Warum schaffen es gedruckte Schriftzeichen, uns so zu ergreifen, dass wir um uns herum alles vergessen? Die zweite lautete: Warum sind Verszeilen so kurz? Und aus welchem Grund – drittens – wurde die Poesie erfunden? Bleiben wir mal bei Letzterem: Was ist hier Ihre Antwort, warum gibt es Lyrik?

Schrott: Lyrik ist das richtige Wort, Lyrik bedeutet musikalisch gebundene Sprache. Das heißt, ein Gedicht ist immer auch ein Klangereignis, eine besondere Melodie, ein Rhythmus, ein Versmaß, all diese Dinge. Und da kommt die Neurologie mit ins Spiel, denn die kann uns zeigen, dass wir Musik und Sprache in verschiedenen Gehirnhälften verarbeiten, dass sie aber eng genug miteinander vernetzt sind – denken Sie zum Beispiel, in der Musik gibt es Töne, in der Sprache gibt es Silben, es gibt Intonationsbögen sowohl in der Musik wie bei Fragen beispielsweise –, es gibt genügend ähnliche Strukturen, dass das miteinander vernetzbar ist.

Und das hat nun den Vorteil, und jetzt kommt das historische Wissen herein, dass in einer Zeit, wo es noch keine Schrift gab, die einzige Möglichkeit, sich etwas zu merken, darin besteht, dass wir etwas musikalisch binden. Das heißt, ich wüsste jetzt nicht den genauen Wortlaut der letzten zwei, drei Sätze so zu wiederholen, wie ich ihn formuliert habe, obwohl ich mich hier am Mikrofon sehr anstrenge. Wenn ich das aber jetzt musikalisch gebunden formulieren würde, dann würde ich mir das auch noch die nächsten Monate wahrscheinlich merken.

Das einfachste Beispiel, das Sie selbst dazu machen können: Versuchen Sie, ein Lied – und nichts anderes ist ja Lyrik – versuchen Sie, ein Lied trocken aufzusagen, dann werden Sie bis zur zweiten Zeile höchstwahrscheinlich kommen, und dann wird es abreißen. Wenn Sie es aber singen können, dann werden Sie bis zum Refrain kommen. Das bedeutet also, dass wir mit diesen beiden Hirnhälften, die getrennt arbeiten, aber doch eng vernetzt sind, quasi eine doppelte Speicherkapazität haben, mit der wir Wissen in einer besonderen, strukturierten Form ablegen können und es wieder abrufen können. Das ist der Grund, weshalb es Poesie gibt. Auch das ein wesentliches Erkenntnis der Neurologie.

Scholl: Und dieses Sangliche, also dass wir singen, hat ja auch dann wirklich zu tun mit Versmaß zum Beispiel, mit einer Silbenanhäufung, das muss einen Rhythmus haben, die Metrik spielt eine Rolle, und dann vor allem eben auch der Reim.

Raoul Schrott, österreichischer Literaturwissenschaftler, Komparatist und Schriftsteller
Raoul Schrott© picture-alliance / Erwin Elsner
"Jeder Werbespruch basiert auf poetischen Prinzipien"
Schrott: Das sind alles verschiedene Mechanismen, die im Gedicht angetippt werden, die aber nicht – und das ist ein ganz wichtiger Punkt – die aber nicht auf die Lyrik beschränkt sind. Das heißt, unsere Alltagssprache inkorporiert, benützt all die Möglichkeiten, die die Poesie – in konzentrierter Form, wohl gesagt – präsentiert. Jede Politikerrede, jeder Werbespruch basiert auf poetischen Prinzipien, die man vielleicht nicht auf Anhieb erkennt, aber die ein geschulter Lyriker sofort kennt. Das heißt, es gibt in der Lyrik nichts, was es nicht in der Alltagssprache auch geben würde. Und das Tolle an der Lyrik ist, dass sie ein fantastisches Demonstrationsobjekt für unsere Art des Bewusstseins, unsere Art der Wahrnehmung, unsere Art des Sprachempfindens, unsere Art des Umgangs mit der Welt ist.

Auf der einen Seite ist in ihr alles, was Sprache kann, vorhanden, das zelebriert die Lyrik, zugleich ist aber auch Bildliches vorhanden. Denken Sie an Ihr Eingangszitat, die Asseln, die Maiskörner, all das ruft Bilder in uns hervor, und zum Dritten ist es noch Musik. Das heißt also, drei verschiedene Ebenen, für die wir sonst ins Kino gehen müssten oder in die Oper, um das in aller Künstlichkeit zu sehen, werden im Gedicht durch die einfachsten Möglichkeiten ohne irgendwelche fremden Hilfsmittel vorgestellt. Und nun kann die Neurologie die verschiedensten Dinge zeigen, beispielsweise, ein schönes Beispiel ist: Warum sind die Gedichtzeilen so kurz?

Wenn man sich jetzt nun, das ist literaturwissenschaftliche, statistische Arbeit, Gedichtzeilen ansieht auf der ganzen Welt, merkt man, die haben ungefähr zwölf Silben, das bedeutet Sprechzeit plus minus drei Sekunden. Und da kommt jetzt wieder die Neurologie ins Spiel, denn erst die kann uns zeigen, dass das Fassungsvermögen unseres Arbeitsspeichers drei Sekunden umfasst. Das heißt, während wir hier miteinander reden, ladet mein Gehirn im Dreisekundentakt nach, mein Mund redet raus, dann kommt oben wieder das nächste rein, Mikropause, da wird das nächste rausgeschossen. Ich höre Ihnen auf die selbe Art und Weise zu, indem ich das in Dreisekundensequenzen takte, und das bedeutet jetzt ganz praktisch gesprochen, dass eine Gedichtzeile eine ideale Verpackungsgröße für Information ist. Deshalb ist die Zeitung, die wir lesen, in diesen kurzen Spalten gedruckt, denn da ist bereits in diesem Dreisekundentakt plus oder minus bereits vorsequenziert, vorprogrammiert.

Scholl: "Gehirn und Gedicht – wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren", so heißt das voluminöse Buch, das Raoul Schrott und Arthur Jakobs geschrieben haben. Es ist im Hanser Verlag erschienen, und dieser Titel taucht heute Abend auch in einem Feature hier im Deutschlandradio Kultur auf, das wir im Rahmen unseres "Lyriksommers" senden: "Die Poesie der Nervennetze – wie Gehirn und Gedicht zusammenspielen", heute Abend ab 19.30 Uhr in unserem Programm, und da können Sie Raoul Schrott und seinen Koautor Arthur Jakobs hören. Ihnen zunächst, Herr Schrott, ganz, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Schrott: Ich bedanke mich bei Ihnen, schönen Tag noch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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