Gedichte über die Stille

18.07.2007
Der Autor Jürgen Becker wählt in den 50 Gedichten, die zwischen 1999 und 2006 entstanden sind, die Stille als eines der zentralen Themen. So heißt es beispielsweise in dem Gedicht "Alte Gegenden": "Diese Bahnhofsuhr, irgendwann ist sie stehengeblieben."
"So kann man es auch sehen; von Raum zu Raum / wechseln die Projektionen, und zunehmend wird es / still", heißt es in Jürgen Beckers Gedicht "Anfang Januar" aus dem 1999 erschienenen letzten Lyrikband "Journal der Wiederholungen". Auch in den 50 Gedichten, die zwischen 1999 und 2006 entstanden sind, und die jetzt unter dem Titel "Dorfrand mit Tankstelle" vorliegen, ist die Stille eines der zentralen Themen. In dem Gedicht "Alte Gegenden" heißt es: "Diese Bahnhofsuhr, irgendwann ist sie / stehengeblieben."

Jürgen Becker gliedert seinen neuen Gedichtband in zehn Abteilungen. In der ersten, die er "Winterlandschaften" nennt, ist von Landschaften die Rede, die ins Gedächtnis eingefroren wurden. Es handelt sich um Bilder aus der Vergangenheit, denen der Kontext fehlt. Das lyrische Ich erinnert sich nur noch an Bildausschnitte, aber nicht mehr an das Kontinuum, in das sie gehörten. Die Zeit hat das Vergessen an diesen Bildern arbeiten lassen. Sie hat dafür gesorgt, dass nur noch Teile vorhanden sind, in denen Geschichte erstarrt ist. Doch um sie rekonstruieren zu können, muss sich das Gedächtnis zu den Rändern vorarbeiten.

Der 1932 geborene Jürgen Becker ist ein Spezialist für Reisen, die in Randgebiete führen. Dieser sensible Spurensucher landet bei seinen Exkursionen immer wieder an Orte, wo das Erinnern Tür an Tür mit dem Vergessen wohnt. "Ränder" heißt sein 1968 erschienenes Buch, in dem der Autor sich schreibend in Grenzbereiche begibt.

An Beckers neuen Gedichten fällt auf, dass er weniger Interesse an scharfen Konturen zeigt, sondern sich mehr für die weichen Übergänge interessiert. "So war es", heißt es in dem Gedicht "A mind of winter, wie Wallace Stevens schrieb", "die Schneehemden ein bißschen mehr grau / als die Weiße Ebene, in der sie liegen, / vereinzelt, verstreut, eine unregelmäßige Reihe von Hügeln, / über denen Geräusche kreisen, heiser und schwarz."

Es sind die Details, denen Becker nachspürt, das scheinbar Belanglose weckt sein Interesse, kleine Mikrokosmen besitzen eine große Anziehungskraft. Im fünften Abschnitt des Bandes mit dem Titel "Küchenfenster mit Seeblick" hält Becker besonders solche Bilder fest, die sich dem Zufall verdanken. Die Sprachskizzen sind der Natur abgeschaut - und ebenso flüchtig wie diese Zeichnungen sind diese Verse. Sie wollen scheinbar nichts. Aber auch wenn die Gedichte von nichts anderem als von der Natur sprechen, lagern an den Rändern dieser Bilder Geschichten, die einen Blickwechsel ermöglichen, eine andere Perspektive eröffnen. In dem Gedicht "Meldung" ist es das Wort "Front", das wie eine Brücke zwei sehr verschiedene Ufer miteinander verbindet: "Hier ist eingetroffen der plötzliche Sonnenstrahl, / zwischen den Pfützen, die seit Wochen / eine Seenplatte bilden vor dem Küchenfenster, / und jetzt hat sich ausgedehnt / der Riß in der schwarzen Front des Himmels."

Jürgen Becker ist eine der wichtigen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, was er mit diesem Gedichtband, in dem die leisen Töne bestimmend sind, erneut sehr eindrucksvoll bewiesen hat.

Rezensiert von Michael Opitz

Jürgen Becker:
Dorfrand mit Tankstelle. Gedichte.

Suhrkamp Verlag 2007, Frankfurt am Main 2007.
95 Seiten, 10,80 Euro.