Gedenkkultur

Ganz auf Staatslinie

Russische Soldaten sitzen im Schützengraben während des 1. Weltkriegs.
Russische Soldaten sitzen im Schützengraben während des 1. Weltkriegs. © picture alliance / dpa / Foto: Itar-Tass
Von Gesine Dornblüth · 06.05.2014
Der 1. Weltkrieg gilt in Russland als "Vergessener Krieg". In der Sowjetunion wurde er aus ideologischen Gründen verschwiegen. Zum hundertsten Jahrestag des Ausbruchs entdeckt die Staatsführung den Krieg neu. Der Bildhauer Andrej Kowaltschuk baut das zentrale Denkmal dafür.
Eine Werkshalle in einem Randbezirk Moskaus. Durch die Fenster unter der Decke fallen Sonnenstrahlen herein, vermischen sich mit dem grellen Licht der Neonröhren. Alles ist voller Staub. Riesige Gerüste füllen den Raum aus. In luftiger Höhe sitzen Arbeiter in Kitteln und hämmern, schweißen, meißeln. Ein Relief mit Soldatenfiguren ist zu erkennen, die Männer überlebensgroß, der Anführer streckt das Bajonett in die Höhe, eine barmherzige Schwester hält einen leblosen Körper im Arm. Unten zwischen den Gerüsten steht ein Mann und gibt Anweisungen.
"Wir sind hier im Wutschetitsch-Kombinat. Wutschetitsch war ein berühmter Bildhauer, er hat das Denkmal auf dem Mamajew-Hügel in Stalingrad gemacht, in Wolgograd. Nach seinem Tod wurde dieses Kombinat nach ihm benannt. Es ist 50 oder 60 Jahre alt. Ein großes Gebäude, in dem man riesige Skulpturen schaffen kann. Zu Sowjetzeiten wurden hier natürlich viele Lenins gefertigt und wohl auch das große Gagarin-Denkmal."
Andrej Kowaltschuk, 59 Jahre, langes leicht ergrautes Haar, hängender Schnurrbart, baut das zentrale russische Denkmal für den Ersten Weltkrieg. Er trägt Straßenkleidung, denn er hatte noch keine Zeit, sich umzuziehen.
"Hier sind dutzende Leute beteiligt. Das Projekt ist sehr groß, und die Fristen sind extrem kurz. Wir haben erst im Oktober mit den Arbeiten begonnen. Am 1. August soll das Denkmal schon eröffnet werden, in Anwesenheit vieler Staatschefs. Allein das Modellieren nimmt mehrere Monate in Anspruch."
Historiker und Künstler entwickeln Erinnerungskultur
Ende 2012 hat Russlands Präsident Wladimir Putin den 1. August zum Gedenktag der russischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs erklärt. Seitdem entwickeln Historiker und Künstler eine Erinnerungskultur.
Ein Assistent ist mit einem Laptop herbeigeeilt. Kowaltschuk weist ihn an, Fotos des Entwurfs zu zeigen. Auf dem Bildschirm ist, neben dem Bronzerelief, ein riesiger Soldat in Felduniform zu sehen. Kowaltschuk zeigt auf ein metallenes Gerippe in der Halle. Darum ist eine Wade geformt, mannshoch.
"Ich möchte einen Soldaten darstellen, der ehrlich und treu seinen Eid erfüllt und seinem Vaterland gedient hat. Ich weiß nicht, ob er Sieger ist oder nicht, denn Russland ist ja vor dem Kriegsende aus dem Krieg ausgeschieden. Aber er hat durchgemacht, was die Kämpfer aller Länder durchgemacht haben. Deshalb ist die Figur symbolisch, vielleicht nicht nur für Russland."
Kowaltschuk ist nicht irgendein Bildhauer. Er hat das Denkmal für die Opfer von Tschernobyl in Moskau gebaut und er hat Peter dem Großen ein Denkmal gesetzt und den Dichtern Puschkin und Tjutschew. Mehrfach hat er sich öffentlich zur Politik des Kreml bekannt. Seit fünf Jahren ist er Vorsitzender des Russischen Künstlerverbandes. Doch die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg ist auch für ihn neu.
"Natürlich hatten wir in der Sowjetunion in der Schule Geschichtsunterricht, und wir wussten, dass 1914 ein Krieg begann. Aber über diesen Krieg wurde nicht so viel erzählt, als dass wir verstanden hätten, wie sehr er die ganze folgende Geschichte Russlands beeinflusst hat. Alles ging direkt in die Geschichte der Revolution über. Zum Krieg standen da zehn Zeilen, zur Revolution hundert."
Putin verweist auf das zaristische Imperium
Russland entdeckt seine vorsowjetische Geschichte neu. Präsident Putin verweist schon seit einiger Zeit bei öffentlichen Auftritten auf das zaristische Imperium, und zwar positiv. Auch das spiegelt sich in Kowaltschuks Denkmal.
In fünf Meter Höhe hockt ein Arbeiter vor einem weißen Block, besprengt ihn abwechselnd mit Wasser und schleift ihn ab. Später soll der Block weiß blau rot gestrichen werden.
Unsere Fahne hat jetzt dieselben Farben wie damals, im Ersten Weltkrieg. Russland kehrt zu seinen Ursprüngen zurück, zu dem, was schon vor einigen hundert Jahren beschlossen wurde
Dabei ist allerdings ein Paradox zu bewältigen. Die Offiziere der Zarenarmee galten über 70 Jahre als Feinde. Denn viele von ihnen kämpften anschließend im russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken. In tausenden Filmen, Romanen, Schulbüchern, Liedern gelten die Roten als gut, die Weißen als schlecht. Wenn nun auf einmal die Weißen zu Helden werden, könnte das die Bolschewiken diskreditieren. Kowaltschuk sagt an dieser Stelle, was viele Menschen sagen, die in Russland derzeit mit der Interpretation des Ersten Weltkriegs beschäftigt sind: Es müsse heute darum gehen, die Gräben in der Gesellschaft zu überwinden. Damit ist er ganz auf Staatslinie.
"Der Krieg hat die Nation gespalten. Es ist aber bedauerlich, wenn eine Nation gespalten wird. Ich lehne das total ab. Es ist ganzes Jahrhundert vergangen. Das verbindet die Menschen. Die Zeit schleift spitze Kanten glatt."
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