Gedenken in Schloss Grafeneck

Kein Schweigen, kein Vergessen

Ein Altar aus Stein ist am 14.01.2015 in der Gedenkstätte Grafeneck in Gomadingen-Grafeneck (Baden-Württemberg) zu sehen.
Ein Altar aus Stein erinnert an die in Grafeneck ermordeten Menschen. © picture alliance / dpa / Daniel Naupold
Von Uschi Götz · 26.01.2018
10.654 behinderte oder psychisch kranke Menschen wurden von den Nazis in Grafeneck getötet. Eine Gedenkstätte erinnert heute an die Morde. Ausgegangen war die Initiative zur Aufarbeitung der Vergangenheit von den Bürgern.
"Wir gehen mit dem Ortsteil Grafeneck so um, wie mit allen anderen Ortsteilen. Die Vereine sind dort präsent, man betreibt in den Sommermonaten das Schlosscafé auf der Schlossterrasse, der Gemeinderat tagt dort ein- zwei- dreimal im Jahr."
Wie passen ein Schlosscafé und Sommerfeste zu einem Ort, an dem im Januar 1940 die systematische Ermordung von Menschen ihren Anfang nahm?
Sieben Ortsteile gehören zur Gemeinde, einer davon ist Grafeneck. Was da oben auf der Schwäbischen Alb gelungen ist, gilt mittlerweile als beispielhaft im Umgang mit Gedenkstätten. Die Gomadinger sind dabei, sei es bei Gedenkveranstaltungen oder bei fröhlichen Veranstaltungen in Grafeneck. Das gilt auch für den Bürgermeister und den Gemeinderat.
"Wir gehen relativ offensiv mit der Geschichte von Grafeneck um. Wir waren mit dabei, als die Gedenkstätte gebaut wurde, im Jahr 1990."

Bürger ergreifen die Initiative

Allerdings ist Bürgermeister Klemens Betz von den Freien Wählern erst seit 1994 im Amt. Vor 1990 lag über der Region zumindest öffentlich ein großes Schweigen, wenn es um die Vergangenheit von Grafeneck ging.
Lange Zeit erinnerten lediglich zwei Urnengräber auf dem Grafenecker Friedhof und ab 1982 die erste Texttafel, die an die Verbrechen von 1940.
Und es waren auch keine Lokalpolitiker, die in den 1980er-Jahren daran etwas ändern wollten, sondern einzelne Bürger, die sich für einen adäquaten Erinnerungsort einsetzten:
"Das waren Bürger hier aus dem Raum Münsingen, Gomadingen, Grafeneck. Von Mitarbeitern, hier der Einrichtung, der damalige Einrichtungsleiter über Journalisten, Lehrer, Volkshochschulleiterin damals."
In einem Ordner in der Gedenkstätte Grafeneck sind die Namen der durch die Nazis ermoderten Opfer zu sehen.
In einem Ordner in der Gedenkstätte Grafeneck sind die Namen der durch die Nazis ermoderten Opfer zu sehen.© picture alliance / dpa / Daniel Naupold
Historiker Thomas Stöckle leitet die Gedenkstätte Grafeneck, zu der auch ein Dokumentationszentrum gehört. Auf Initiative dieser Bürger konnte 1990 genau 50 Jahre nach den Gräueltaten der Nazis im Zugangsbereich des Geländes eine Kapelle als Gedenkstätte eingeweiht werden.
"Die erste Phase war jetzt, hier steht jetzt die Gedenkstätte für 10.654 Menschen, die da ermordet wurden an diesem Ort. Und dann war die zweite Frage: Wer sind diese 10.654 Menschen? Und im Grunde, die Identität zu klären, war die zweite Frage und da damit verknüpft, was wir heute sagen würden, wissenschaftliche Forschung."

Erinnerungen an die grauen Busse

Thomas Stöckle hat viele Jahre recherchiert, die meisten Opfer haben mittlerweile einen Namen, alle finden sich in einem Buch, das vor der Gedenkstätte ausliegt. Der Historiker traf sich auch mit vielen Zeitzeugen aus der Umgebung. Nahezu alle erinnerten sich an durch den Ort fahrende, graue Busse. Auch wie manchmal verzweifelte Menschen aus den Bussen geschrien haben, wurde ihm erzählt. Immer mehr Anfragen nach möglichen Opfern in Grafeneck erreichen die Gedenkstätte von Familien, aber auch von Pflegeeinrichtungen.
Mittlerweile beschäftigt die Gedenkstätte zweieinhalb Vollzeitmitarbeiter. 140.000 Euro stehen für die Arbeit insgesamt aus Landesmitteln zur Verfügung, Bundesmittel gibt es nur sporadisch. Immer mehr Anfragen von Familien und Erreichen dabei das Team.
In grauen Bussen wurden 1940 behinderte oder psychisch kranke Menschen aus vielen Regionen Deutschlands nach Grafeneck gebracht. Rund zehn Jahre hatte bis dahin das Schloss auf einem Bergsporn nahe dem großen Lautertal der Samariterstiftung als Behindertenheim gedient. 1939 beschlagnahmten die Nationalsozialisten das Gelände samt Schloss.
In der Gegend wusste man schnell, welches Schicksal die Menschen in den vorbeifahrenden grauen Bussen erwartet. Dies geht auch aus Zeitzeugengesprächen hervor, die regelmäßig am Münsinger Gymnasium in den 9. Klassen stattfinden. Sieben Kilometer sind es von dort bis nach Grafeneck.

Jungen Menschen werden sensibilisiert

"Diese Erinnerungen an die grauen Busse und an den Geruch der verbrannten Leichen, den man teilweise, je nach Windrichtung, bis Münsingen oder Dottingen oder sonst wo gerochen hat."
Erzählt Geschichtslehrer Traugott Huppenbauer. Im Geschichtskurs an diesem Morgen wird deutlich, wie sensibilisiert die jungen Menschen für die Vergangenheit sind. Johannes Schindler erzählt von seiner Großmutter:
"Also die war damals auch noch jung und hat auch immer diese grauen Busse gesehen. Aber sie hat das auch nicht so offen erzählt, weil man das wohl auch verdrängt hat wahrscheinlich."
Jonas Klink, auch er aus der Oberstufe, berichtet von seinem fast 90-jährigen Großvater, der zwar nichts mit dem Geschehen in Grafeneck zu tun hatte und doch keine Ruhe findet:
"Bis heute ist es für ihn ein Konflikt zwischen Schuld auf sich nehmen und Schuld von sich schieben. Er hat mir schon relativ früh von dem ganzen Geschehen erzählt. Und ich bin da im Alter von sechs oder sieben zum ersten Mal mit meiner Oma zur Gedenkstätte gefahren. Was für mich imposant war, damals als kleiner Junge, war dieses Buch mit diesen unzähligen Namen drin."

Heute leben hier wieder behinderte Menschen

Jendrik Brinkhoff, ein früherer Schüler von Traugott Huppenbauer, betreut heute im Rahmen seines Dualen Studiums Menschen in Grafeneck und Gomadingen:
"Ich arbeite mit psychisch Kranken, die aber auch eine geistige Behinderung haben. Also Doppeldiagnosen."
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging das Gelände Grafeneck wieder an die Samariterstiftung zurück. Wieder zogen behinderte Menschen auf den Berg. Heute leben 120 Menschen in neugebauten Wohneinheiten in Grafeneck. Im Alltag vergesse man meist, welch schwere Vergangenheit auf diesem Ort laste, sagt der 23-jährige Student:
"Gerade wenn man jetzt im Alltagsstress ist, dann denkt man jetzt weniger nach darüber. Aber wenn ich dann teilweise an der Gedenkstätte vorbeigehe, dann denke ich schon manchmal darüber nach, was da jetzt alles passiert ist."
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