Gedenken

Erinnern und Leben am Gleis 17

Blumen liegen am Boden der Zugplattform der Gedenkstätte "Gleis 17" in Berlin Grundewald.
Die Moses-Mendelssohn-Stiftung plant am Mahnmal "Gleis 17" einen Gedenk-Campus. © mago images / Jürgen Ritter
Von Thomas Klatt · 23.10.2020
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Die Moses Mendelssohn Stiftung will Studierende an den Gedenkort "Gleis 17" bringen. Direkt neben der Erinnerungsstätte im Berliner Grunewald soll zukünftig ein Gedenk-Campus mit Apartments und einem "history lab" für Studierende errichtet werden.
Am Berliner S-Bahnhof Grunewald erinnert heute das Mahnmal Gleis 17 an seine Geschichte. Der Treppe nach oben folgend liegt dort das alte Schotter-Gleis. Parallel verlegte Stahlgussplatten erinnern an die Deportierten, die Datum und die Zielorte: Riga, Warschau, Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau. Zwischen den Schienen wachsen Bäume und Büsche - Symbol dafür, dass hier nie wieder ein Zug den Bahnhof verlassen soll. An den Gedenktafeln liegen frische Blumen. Für die einen ein beeindruckender Ort. Für andere aber nicht genug.
"Immer wieder, wenn man an diesem Ort vorbei geht, ist es ein trauriger Anblick. Viele Leute, die dort vorbei gehen, registrieren auch gar nicht, um welchen Ort es sich dort handelt."
Sagt die Kultur- und Sozialwissenschaftlerin Elke-Vera Kotowski vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Hinter Gleis 17 liegt heute eine gut 20.000 Quadratmeter große Brache. Ein Hundeauslaufplatz. Das soll sich bald ändern.

Geschichte attraktiv vermitteln

"Die Stiftung hat das angrenzende Gelände an Gleis 17 käuflich erworben von einer Bundesbahn-Tochter. Das ist schon ein wichtiger Schritt. Es dauert seine Zeit, aber die Signale stehen alle auf Grün", sagt Julius Schoeps, Vorstandsvorsitzender der Moses-Mendelssohn-Stiftung und Gründungsdirektor des Moses-Mendelssohn-Zentrums.
Die Stiftung will hier einen Gedenk-Campus mit 150 Wohnungen für Studierende errichten. Eine rund 20 Millionen Euro-Investition. Für Elke-Vera Kotowski eine sinnvolle Anlage: "Dass wir Medienwissenschaftler, dass wir IT-Fachleute zusammenbringen, die darüber nachdenken: Wie können wir Geschichte vermitteln, die für junge Leute auch attraktiv ist. Es wird innen einen Ausstellungsraum geben mit einem history lab. Aber das Grundstück ist sehr groß und wir wollen drum herum die Landschaft, das Gelände in einer Form als Gedenkort gestalten und da sind wir interessiert, junge Studierende, die sich mit der Landschaftsarchitektur beschäftigen, zu motivieren, sich Gedanken zu machen, wie kann auch im Sinne von Yad Vashem ein Hain der Gerechten geschaffen werden."

Der Autorin Else Ury am Gleis 17 gedenken

Innen soll in einer Dauerausstellung der Opfer gedacht werden. Auf dem Freigelände werden nach Vorbild der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem Bäume für die gepflanzt, die etwa Juden heimlich versteckten. Vor Julius Schoeps geistigem Auge füllt sich das Studierendenwohnheim bereits mit den künftigen Bewohnern des Campus: "Architektur-Studenten, Studenten der Geschichte, der Kulturwissenschaften, der Literatur - der Ort ist für Studenten hervorragend. Es ist nicht weit in die Stadt hinein. Und es ist nicht weit nach Potsdam."
Die Gedenk-Campus-Arbeit soll in die regulären Studiengänge mit eingebunden werden. Zudem will die Stiftung acht bis zehn Stipendien ausloben. Das Vorhaben ist keine Luftnummer, betreibt die Moses-Mendelssohn-Stiftung doch heute schon mehr als 20 Mikroapartment-Wohnheime. Jedes von ihnen trägt einen jüdischen Namen. Der Gedenk-Campus am Gleis 17 soll nach der Kinderbuchautorin Else Ury benannt werden, Verfasserin der einst populären Kinderbuchreihe "Nesthäkchen". Else Ury wurde im Januar 1943 in Auschwitz ermordet. Eine von mehr als 50.000 Jüdinnen und Juden, die von Berlin aus deportiert wurden.
"Wir sprechen hier von Zahlen. Uns ist daran gelegen, hinter diesen Zahlen auch die Menschen wieder aufleben zu lassen, zu recherchieren und die Ergebnisse dann in eine Datenbank einzuspeisen. Dass wir möglichst viele biografische Daten, möglichst auch Bildmaterial einspeisen und daraus eine Datenbank entwickeln."

Niemand hat etwas gesehen...

Rabbiner Walter Rothschild - selbst ein Eisenbahn-Enthusiast - begrüßt das Vorhaben: "Es gab mehrere Deportationsbahnhöfe: Moabit etwa, wo es keine Gedenkstätte gibt. Gleis 17 in Grunewald ist wenigstens etwas, was man sehen kann, wo man Kränze niederlegen kann. Von dort sind die Leute deportiert worden, nicht hier sind sie ermordet worden. Und eins der Rätsel der Berliner Geschichte ist: Diese Leute sind zu Fuß durch ganz Berlin getrieben worden von den Sammelpunkten unter anderem an der Großen Hamburger Straße. Aber keiner hat sie gesehen? Bis zum heutigen Tag weiß man nicht genau, welche Route sie genommen haben."
"Keiner von den damaligen Polizisten oder Soldaten nahm eine Kamera mit. Es gibt ein paar Deportationen, von denen man etwas weiß. Würzburg zum Beispiel. Ein anderer berühmter Filmschnitt ist Westerbork in den Niederlanden."
Julius Schoeps ist überzeugt, dass der Else-Ury-Gedenk-Campus schon in wenigen Jahren starten kann: "Wir haben Kontakte mit dem Zentralrat. Herr Schuster ist informiert. Und Charlotte Knobloch hat sich schon bereit erklärt, die Schirmherrschaft für dieses Projekt zu übernehmen. So dass die Rahmenbedingungen schon vorhanden sind."
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