Gedenken ans Kriegsende

Zwei Botschaften ins Heute

Der Bundestag bei der Gedenkfeier am 8. Mai 2015 - 70 Jahre nach Kriegsende
Der Bundestag bei der Gedenkfeier am 8. Mai 2015 - 70 Jahre nach Kriegsende © dpa / picture-alliance / Wolfgang Kumm
Von Stephan Detjen · 08.05.2015
Die Gedenkstunde im Bundestag war eine Mahnung, die sich auch auf die Aktualität im Osten Europas übertragen lässt, meint Stephan Detjen. Schließlich sei dabei an die Leiden der Balten und Polen wie auch an die Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen erinnert worden.
Gedenkstunden wie diese haben eine zivilreligiöse Dimension. Der Bundestag wird zum quasi sakralen Ort einer feierlichen Selbstvergewisserung. Die Repräsentanten der Nation bekräftigen sich und dem Publikum - darunter Diplomaten und wenige Veteranen der einstigen Siegermächte: Auch nach 70 Jahren sind Krieg und nationalsozialistische Verbrechen der zentrale Fixpunkt deutscher Identität.
Ohne die fortwährende Rückbesinnung wollen sich die Deutschen nicht mehr selbst verstehen. Und ohne diese besondere Beziehung zur eigenen Geschichte sind sie auch für andere nicht verständlich.
"Tag der Befreiung" - der Begriff entstand schon 1965
Deshalb ist deutschen Historikern immer wieder die geradezu hohepriesterliche Rolle zugefallen, die auch Heinrich August Winkler als Redner im Bundestag heute noch einmal zugewiesen wurde. 1938 in Königsberg geboren ist er selbst einer der letzten Vertreter seiner Zunft, die dieses Amt noch einmal so wie heute als geschichtswissenschaftlicher Meistererzähler ausfüllen, der zugleich als Mahner und Lehrmeister in die Politik der Gegenwart wirkt. Seine Rede illustrierte, wie viele der in diesen Tagen geradezu rituell wiederholten Lehrsätze aus der Geschichte in langen Auseinandersetzungen errungen und erstritten wurden.
Auch Winkler nannte vor allem Richard von Weizsäckers berühmte Rede vom 8. Mai 1985 als Datum einer geschichtspolitischen Läuterung. Es war allerdings Norbert Lammert, der andeutete, dass Weizsäcker keineswegs der erste war, der diese Erkenntnis aussprach. Gedenkreden zum 8. Mai sind im Rückblick ein Spiegel deutscher Selbstbestimmungen. Im Mai 1955 redete man vor allem vom Tag der deutschen Niederlage.
Schon 1965 aber sprach Ludwig Erhardt von einem Tag der Befreiung, der diese Bedeutung nur nicht erlangen könne, solange es noch Krieg und Tyrannei in anderen Teilen der Welt gebe. Und 1985 benannte Helmut Kohl in einer Gedenkrede im ehemaligen KZ Bergen-Belsen den 8. Mai - zwei Wochen vor der Rede von Weizsäckers - wortgleich wie der damalige Bundespräsident als "Tag der Befreiung". Zuweilen hängt Erkenntnis offenbar weniger davon ab, dass eine Wahrheit ausgesprochen wird, als von wem sie ausgesprochen wird - und aus welchem Munde sie vom Publikum verstanden werden will.
Veränderter Blick auf Europas Osten
Was von diesem 8. Mai 70 Jahre nach Kriegsende bleiben dürfte, ist ein veränderter Blick in den Osten Europas. Es ist zum einen die Variation des Satzes "Nie wieder", der Jahrzehnte lang die Parole der Antikriegsbewegung war. Heinrich August Winkler wendete ihn heute vor dem Hintergrund der russischen Expansion in die Ukraine in den Appell, nie wieder dürfte über das Schicksal von Polen und Balten über deren Köpfe hinweg in Berlin und Moskau entschieden werden.
Zum anderen dürfte vom Gedenken dieses Jahres die Rede des Bundespräsidenten in Erinnerung bleiben, in der Joachim Gauck in so in der Tat neuer Intensität an das Leiden und millionenfache Sterben sowjetischer Kriegsgefangener in den Lagern der Wehrmacht erinnerte. Die gedanklichen Linien, die sich zwischen diesen beiden Botschaften des 8. Mai 2015 ziehen lassen, könnten einen neuen Schritt im weitergehenden Selbstbesinnungs-Prozess der Deutschen markieren.
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