Gedanken zwischen Leben und Tod

29.02.2012
Der Held in Christoph Schmitz' Debütroman liegt im Sterben - der Krebs hat seine Lunge befallen. Von seiner Familie umsorgt, versinkt er immer tiefer in den Erinnerungen an das, was früher war. Eine Reise in die Vergangenheit, die ohne jede Spur von Sentimentalität auskommt.
Dass das Erzählen vor dem Tod retten kann, ist seit Scheherazade in "Tausendundeine Nacht" ein Topos. Genau wie für die persische Königsgemahlin scheint auch für den Helden in Christoph Schmitz' literarischem Debüt "Das Wiesenhaus" Leben und Erzählen in einem engen Zusammenhang zu stehen. "Bevor ich sterbe, muss ich erzählen", heißt es zu Beginn der Kapitel immer wieder. Ein dichtes Gewebe aus Kindheitsbildern und Familiengeschichten entsteht, das keiner Chronologie folgt, sondern assoziativ verknüpft ist. Diese Form passt zum Zustand des jungen Mannes, der hier seine Stimme erhebt. Johannes, 1962 geboren, befindet sich in einem Limbus zwischen Leben und Tod - ein Krebsgeschwür hat sich in seinem Darm ausgebreitet und auch die Lunge befallen. Von seiner Frau und seinen Kindern umsorgt, versinkt er immer tiefer in den Erinnerungen an das, was früher war.

Ohne jede Spur von Sentimentalität lässt Christoph Schmitz, Jahrgang 1961 und Kulturredakteur beim Deutschlandfunk, seinen Helden in die Vergangenheit abtauchen. Die Sprache ist sparsam orchestriert, ab und zu blitzen poetische Vergleiche oder Bilder auf. Das kleinstädtische Ambiente am Rhein, wo schon der Urgroßvater der Familie Achtung verschaffte und der Großonkel Lutt eine Sattlerei besaß, ist zu Beginn der 60er-Jahre noch stark von Traditionen geprägt. Die frühen Kindheitsjahre verbringt der Erzähler bei eben jenem Onkel Lutt im "Wiesenhaus".

Zwischen dem buckligen alten Mann und dem kleinen Jungen besteht eine besondere Verbindung, die sich in den Ritualen des Zubettgehens und der Naturbeobachtung spiegelt. Erst viel später erfährt er das Geheimnis dieses Mannes, der in seiner Jugend in China war und dort in japanische Gefangenschaft geriet. In dem Städtchen lebt man mit mehreren Generationen unter einem Dach, die Feiertage werden geachtet, die Kinder wachsen in einem Verband aus lauter Geschwistern, Cousins und Cousinen auf. Die tiefkatholische Großmutter verkörpert das Regelwerk.

Als Gegenpol tritt immer wieder ihr Lieblingssohn Onkel Jupp auf den Plan, ein unverbesserlicher Hallodri, dessen Draufgängertum die Kinder abwechselnd in Freude und Schrecken stürzt und der am Ende in seiner ganzen Zwiespältigkeit kenntlich wird. Von seiner Mutter zur Übernahme der Sattlerei gezwungen, entzieht er sich seinen Pflichten. Seine Neffen entführt er zu Autofahrten und halsbrecherischen Bootstouren, verteilt Kopfnüsse, demütigt sie, um sie dann im Handumdrehen zu seinen "erstbesten Freunden" zu erklären.

Virtuos knüpft Christoph Schmitz an die Tradition des Pubertätsromans an und vermittelt en passant den Strukturwandel der jungen Bundesrepublik: Der Arztberuf des Vaters entfremdet die Elterngeneration von ihren Handwerkergroßeltern. Nie rutscht der Autor ins allzu Idyllische, was auch daran liegt, dass er aus der Perspektive des Erwachsenen erzählt. Die Familie in ihren warmen und ambivalenten Seiten zu begreifen, ist für den heranwachsenden Helden ein Erkenntnisprozess. Die Trauer um den Verlust der Verwurzelung, die immer auch Anpassung verlangte, wird spürbar. Als der Erzähler am Ende seiner Krankheit erliegt, schließt sich ein Kreis.

Besprochen von Maike Albath

Christoph Schmitz: Das Wiesenhaus
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
196 Seiten, 22,95 Euro