Gebrochene Helden

12.06.2007
Der englische Schriftsteller George Meredith (1828-1909) erzählt in seinem Roman "Die tragischen Komödianten" die Geschichte eines Liebesschlamassels. Ein wahres Schlamassel, das mit etwas mehr Bedacht und Klugheit durchaus lösbar gewesen wäre. Aber die dramatische Wendung, die das Schicksal der Liebenden nimmt, ist den Konventionen geschuldet – den verknöcherten Vorstellungen von Ehre und Anstand.
Eine junge, wohlerzogene Frau aus bestem Hause namens Clotilde fühlt sich durch die Heerscharen ihrer Verehrer eher gelangweilt denn wirklich heraus gefordert. Mit ihrem scharfen Verstand, dem hübschen Gesicht und der kecken Provokationslust sind ihr die gängigen Jünglinge allesamt zu brav. Dennoch gewährt die Genfer Diplomatentochter einem jener blässlichen Geschöpfe, das nur als "Hündchen" und nicht als Gefährte gilt, ihre Gunst.

Als sie für einige Zeit von Genf nach Berlin reist und bei einem Ball einem schneidigen Offizier beim Tanz kämpferische Vorträge hält, fragt sie dieser, ob sie denn Alvan kenne, mit dem sie ja offensichtlich seelenverwandt sei. Sie kennt ihn nicht, hat aber schon von ihm gehört: ein glänzender Theoretiker, landesweit gefeierter politischer Kopf, brillanter Repräsentant einer neuen Bewegung, charismatischer Volkstribun und der Inbegriff des Zeitgefühls.

Clotilde müsse unbedingt seine Bekanntschaft machen, beschwört sie ihr Tanzpartner, sie und er seien füreinander bestimmt. Die junge Frau fühlt sich schon allein von dieser Phantasie entzündet, und als sie bald darauf Alvan tatsächlich begegnet, tritt das Erwartete ein. Beide sind wie vom Donner gerührt und verfallen einander binnen Sekunden.

Doch sie haben die Rechnung ohne die Wirklichkeit gemacht: Clotildes Eltern, gesellschaftlich hoch gestellt, sind gegen die Verbindung und weisen Alvans Antrag schroff zurück. Schließlich ist Alvan Jude. Der berühmte Mann, tief gekränkt und mit seinem hochfahrenden Wesen nicht in der Lage, nach Auswegen zu suchen, fordert Clotildes bisherigen Begleiter, das treue Hündchen, zum Duell heraus. Es kommt wie es kommen musste: Alvan wird von einer Kugel getroffen und stirbt, Clotilde heiratet seinen Widersacher.

"Die tragischen Komödianten" ist ein fein gesponnenes Sittengemälde und eine psychologisch hoch differenzierte Charakterstudie zugleich. George Meredith, der selbst unter den viktorianischen Sitten seiner Heimat litt, gelingt ein kluger Roman über die Fatalität gesellschaftlicher Zwänge. Von melodramatischem Trommelwirbel keine Spur, sein Ton ist von einer tiefen Ironie durchdrungen, und er lässt durchblicken, dass seine Helden durchaus die Wahl gehabt hätten – wären sie selbst nur ein bisschen freier gewesen.

Der Roman des Engländers, der aus kleinen Verhältnissen stammte und die Rolle des Außenseiters nur gar zu gut kannte, verarbeitet einen historischen Stoff. Hinter Alvan verbirgt sich der Begründer der deutschen Sozialdemokratie Ferdinand Lassalle (1825-1864). Clotilde hieß in Wirklichkeit Helene von Dönniges, und die beiden verwickelten sich in eine unheilvolle Affäre, an deren Ende tatsächlich – genau wie im Roman - Lassalle bei einem Duell mit Helenes Verlobten unterliegt und schließlich stirbt.

Dass er auf diese Weise zu Fall kommt, so legt es zumindest Merediths Deutung nahe, ist kein Zufall und hängt mit seiner blinden Arroganz zusammen, wie sie für die Wortführer der neuen Utopien zu Beginn der Moderne typisch war. Erfüllt von missionarischem Eifer und hochmütigem Idealismus, übersehen sie die Fallstricke der Realität, in der sie selbst noch tief verankert sind. "In seiner furchtlosen, selbstsicheren Tüchtigkeit war er wohl wirklich das, wofür er sich hielt: unbezwingbar", schildert Meredith seinen Helden. Dass sich Alvan-Lassalle überhaupt einer überkommenen Gepflogenheit wie einem Duell stellt, hängt mit seiner tiefen Bürgerlichkeit zusammen, derer er sich jedoch gar nicht bewusst ist.

George Meredith gilt als ein unviktorianischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Virginia Woolf nannte ihn einen Innovator des englischen Romans, und Oscar Wilde beschrieb ihn mit den Worten: "Sein Stil ist Chaos, von zuckenden Blitzen erhellt. Als Schriftsteller hat er alles gemeistert, außer der Sprache: Als Romanschriftsteller kann er alles, nur keine Geschichte erzählen: Als Künstler ist er alles, nur nicht klar".

Den deutschen Lesern ist er weniger gegenwärtig als die Schwestern Brontë, Dickens oder Thackeray, obwohl seine Bücher ins Deutsche übersetzt wurden und auch in formaler Hinsicht zu den bahnbrechenden Werken jener Epoche zählen. Mit seinem psychologischen Realismus dringt Meredith tief in seine Figuren ein, seine Beschreibungen entfalten oft eine lyrische Intensität; mitunter wirkt seine Sprache überfrachtet und anachronistisch. In diesen Widersprüchen liegt aber gerade der Reiz von George Merediths literarischem Werk begründet.

Meredith ist ein Autor an der Schwelle zur Moderne. Die Gebrochenheit seiner Helden in "Die tragischen Komödianten", 1880 im Original erschienen und jetzt in einer neuen Übersetzung auf Deutsch herausgekommen, legt davon beredtes Zeugnis ab.

Rezensiert von Maike Albath


George Meredith: Die tragischen Komödianten
Aus dem Englischen übersetzt von Irma Wehrli.
Nachwort von Hanjo Kesting.
Manesse Verlag, Zürich 2007, 320 Seiten, 17,90 Euro