Gauck: "Deutschland hat in Syrien Gestaltungsmöglichkeiten"

Joachim Gauck im Gespräch mit Eberhard Schade · 06.09.2013
Im Rahmen seiner Frankreichreise hat Bundespräsident Joachim Gauck erklärt, Deutschland sei dabei, ein Selbstverständnis zu entwickeln, wie es andere erwachsene Völker auch haben. In der Syrienfrage zeigt er Verständnis für die Zurückhaltung der Bundesregierung.
Hanns Ostermann: Auch Besuche bei Nachbarn können es in sich haben, jeder kennt das aus seinem persönlichen Umfeld. Für das deutsche Staatsoberhaupt aber gilt das ganz besonders! Drei Tage lang war Joachim Gauck in Frankreich, wobei sein Besuch in Oradour-sur-Glane die größte Aufmerksamkeit erzielte: am Ort des Schreckens ermordeten Soldaten der Waffen-SS vor fast 70 Jahren mehr als 600 Franzosen.

Mein Kollege Eberhard Schade hatte die Gelegenheit, mit Joachim Gauck zu sprechen. Er fragte zunächst: Warum hat man diesen Ort, warum hat man Oradour jahrzehntelang mit seinen Toten allein gelassen?

Joachim Gauck: Nun, ich bin nicht sicher, ob deutsche Regierungsmitglieder oder Präsidenten willkommen gewesen wären. Auch jetzt noch, denke ich, haben ein oder zwei Personen überlegen müssen, will ich dabei sein. Sie waren dann dabei und es war harmonisch, aber nicht nur gegenüber Deutschland, sondern auch gegenüber dem französischen Staat hatte Oradour seine Probleme. Es hat seine eigene Erinnerungskultur entwickelt, weil in Vorzeiten eine sehr schnelle Amnestie kam gegenüber elsässischen Tätern, die damals in der SS-Division das Reich mitgewirkt hatten bei diesem Massaker. Und insofern kann man durchaus von einem gespaltenen Verhältnis der Bewohner des Ortes und auch der Region gegenüber deutschen, zum Teil auch französischen Instanzen sprechen. Das war der Grund, warum ich so glücklich war, dass Präsident Hollande mir versprochen hat, ich komme mit nach Oradour.

Eberhard Schade: Ein Bild wird nach Ihrem Besuch bleiben: Es zeigt Sie, Hollande und Robert Hebras, Sie stecken Ihre Köpfe zusammen und umarmen sich. Kann man so eine Geste planen?
Bundespräsident Joachim Gauck umarmt den Überlebenden und Zeitzeuge Robert Hebras im Beisein von Frankreichse Präsident Francois Hollande
Bundespräsident Joachim Gauck umarmt den Überlebenden und Zeitzeuge Robert Hebras im Beisein von Frankreichse Präsident Francois Hollande© picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
"Unsere Gefühle werden uns leiten"
Gauck: Danke für die Frage! Genau das haben der Präsident und ich uns im Auto gefragt. Also, lieber Präsident, wir können ja nun nichts nachmachen, was vielleicht Helmut Kohl mit seinem Partner oder andere an Symbolgesten der Öffentlichkeit übermittelt haben. Und wir meinten, nein, das kommt uns komisch vor, so etwas zu inszenieren. Und haben uns verständigt, ja, unsere Gefühle werden uns leiten. Und so war es auch.

Das ist in dem Moment entstanden, als ich merkte, während ich mit dem Präsident in der Kirche stand, da ist doch einer, der war ein Opfer und der muss jetzt zu uns. Und dann ist daraus eben dieser Verbund dreier Menschen gekommen, die in dieser Stunde des Gedenkens je eine eigene Spur hin in diesen Ort hatten, je eine eigene Geschichte mitbrachten. Und die zweifellos schwierigste und ernsthafteste war die des Überlebenden Herrn Hebras, dem ich das niemals vergessen werde, wie offen und freundschaftlich und zutiefst menschlich er uns begegnet ist.

Schade: Schon im Vorfeld bezeichneten Sie diesen Besuch als emotionalen Höhepunkt Ihrer Reise. Sind die Emotionen dann vor Ort für einen Mann Ihrer Generation noch mal stärker?

Gauck: Ich denke, schon. Wenn man im Krieg geboren ist und aufgewachsen dann als Jugendlicher in einer Zeit, wo sich das intellektuelle und anständige Deutschland fragte, wie konnte das geschehen, wo wir jede einzelne dieser Taten, dieser Verbrechen nicht glauben wollten und doch immer weiter uns reinlasen in die Texte und in diese Bilder versenkt haben, da war eine Zeit, wo wir uns nicht vorstellen konnten, jemals wieder auf gutem Fuß mit unserem eigenen Land zu stehen. Viele fingen an, das eigene Land zu hassen, andere haben mit dem eigenen Land gefremdelt.

"Wir verbergen die Schuld nicht mehr"
Dann diese schrittweise Bearbeitung von Anerkennung von Schuld zu erleben im Westen Deutschlands, diese harten Debatten der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Generationen, und dann irgendwann zu merken, das ist jetzt eingedrungen in unsere kollektive Identität, wir verbergen die Schuld nicht mehr und leugnen sie nicht und relativieren sie auch nicht, und gerade dadurch haben wir Deutsche wieder Zutrauen zu uns selbst fassen können. Wir haben an unseren eigenen Anstand wieder glauben können. Also, ich will sagen, was uns wehtut, das hilft uns manchmal auch weiter. Und das ist bei Individuen so und das war auch im deutschen Volk so.

Schade: Herr Bundespräsident, was glauben Sie, warum hat die Aussöhnung mit den Franzosen insgesamt so gut geklappt und was bedeutet das für Europa?

Gauck: Ich denke, wir sind so eng benachbart und haben so viele Kriege miteinander geführt, dass uns eine weitere Zukunft dieser wechselseitigen Konfliktstrategien überhaupt nicht eingeleuchtet hat nach all diesem ... Es ist natürlich auch Erschütterung und Leiden, was man beendet sehen möchte, aber wenn man sich fragen musste nach dem Krieg, was schafft Zukunft, dann jedenfalls nicht nationalstaatliches Dominanzstreben. Da musste ein Neuanfang her. Und deshalb, glaube ich, war es für die Völker im Zentrum Europas alternativlos, eine Struktur zu errichten, die Kriege ausschloss.

Schade: Nun fiel Ihr Besuch zusammen mit einer Debatte im französischen Parlament zu Syrien. Anfangs, so war mein Eindruck, sind Sie eher auf Distanz zu Hollandes Position gegangen, an anderer Stelle betonten Sie, Deutschland sei erwachsen geworden, und forderten eine angemessene Reaktion.

Gauck: Ich habe seit Längerem das Gefühl, dass unsere Nation dabei ist, ein Selbstverständnis zu entwickeln, wie es andere erwachsene Völker auch haben. Das heißt, dass man sich nicht scheut, in einem Maße, wie wir es in den letzten Jahren auch getan haben, über die Nation hinaus Verantwortung zu übernehmen. Und mich hat es immer gefreut, wenn das von der Bevölkerung akzeptiert wurde. Und mir geht es darum, dass wir als die wirtschaftlich stärkste Nation in Europa mit einem erheblichen politischen Gewicht nicht so tun, als wären wir außerhalb von Gestaltungsmöglichkeiten, sondern immer nur abwarten und reagieren.

"Ich wünsche mir, dass die Völkergemeinschaft sich zusammenrauft"
Es kann manchmal passieren, dass wir dann auch ganz stark Wünsche äußern müssen oder dass wir Solidarität zeigen müssen über unsere eigenen nationalen Interessen hinaus. Ich wäre falsch verstanden, wenn es so aussehen würde, als würde ich mich jetzt von der Haltung unserer Regierung absetzen, ich wünsche mir, dass die Völkergemeinschaft sich zusammenrauft und diese Grausamkeit eines Gasangriffs, der seit Jahrzehnten geächtet ist, angemessen beantwortet.

Und ich weiß genau, dass, wenn jetzt in Sankt Petersburg die G20 tagen, dass das da auch besprochen werden wird. Und wissen Sie, ich will es mal so beschreiben: Ich habe als Mensch diese Empörung von Präsident Hollande wirklich verstehen können. Wir stehen und denken in Oradour an Menschheitsverbrechen und beklagen die; wir müssen, wenn wir eingreifen, wissen, mit welchen Mitteln und mit welchem Ziel und wo sind die Kräfte, die uns unterstützen nach einem Eingriff.

Das haben ja die verschiedenen Eingriffe, die wir jetzt außerhalb von Europa gesehen haben, auch gezeigt. Und daher verstehe ich die Zurückhaltung unserer Regierung sehr wohl!

Schade: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gauck!


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