Gaspar Noé über seinen Film "Climax"

"Die Freiheit der Tänzer wurde auch zu meiner"

Ein großer Haufen Menschen feiert ekstatisch vor rotem Hintergrund.
Eine eskalierende Party: In seinen Filmen sucht und findet Gaspar Noé starke Bilder. © Alamode Filmverleih
Gaspar Noé im Gespräch mit Patrick Wellinski · 01.12.2018
In "Climax" wird eine in einem abgelegenen Übungszentrum einquartierte Tanzcompagnie bei einem rauschenden Fest unwissentlich unter Drogen gesetzt - Eskalationskino vom Meister des Fachs, dem französischen Skandalregisseur Gaspar Noé.
Deutschlandfunk Kultur: Was ist es am Vouging, das Sie dazu verleitet hat "Climax" zu drehen?
Gaspar Noé: Nun ja, es war nicht nur das Vouging, das mich für "Climax" inspiriert hat. Es waren auch andere Tanzstile wie das Crumping, die Anfänge von Break Dance und noch einige weitere Richtungen, die Ende der 80er-Jahre und dann vor allem in den 90ern sehr populär geworden sind. Ich kannte die gesellschaftspolitischen Ausmaße dieser Bewegungen aus den Filmen. Wobei bei David La Chapelles Dokumentarfilm "Rize – uns hält nichts auf!" oder in "Paris is Burning" von Jennie Livingston das Vouging und Crumping meist in den Ballroom-Auftritten oder in Battle-Dance-Szenen gezeigt wird.
Der Filmemacher Gaspar Noé in legerer Kleidung bei einem Filmfestival.
"Ich wollte Energien freisetzen": Der Filmemacher Gaspar Noé.© picture alliance/EPA/Sebastien Nogier
Viel mehr wusste ich nicht, als ich letztes Jahr zu einen Ballroom-Auftritt eingeladen wurde. Aber ich war begeistert von der Energie der Tänzer. Ich begann mich mit anderen Tanzstilen zu beschäftigen, die aus dem Hip-Hop kommen. Und dann war klar, dass ich einen Film darüber machen werde. Ich begann nach den besten, wagemutigsten und verrücktesten Tänzern in Paris zu suchen. Und dann konnten wir auch schon loslegen. Das war unglaublich befreiend. Zwei Millionen Budget, tolle Tänzer, kein Drehbuch, nur ein zweiseitiges Treatment. Die Freiheit der Tänzer wurde auch zu meiner.

Eine Party eskaliert

Deutschlandfunk Kultur: Was stand denn da in den zwei Seiten? War das schon die Geschichte von dieser Gruppe junger Tänzer, deren nächtliche Party völlig eskaliert? Sie haben ja größtenteils mit Tänzern und nicht mit professionellen Darstellern gearbeitet.
Gaspar Noé: Nein, nein, nicht ganz so genau. Den Ausgangspunkt hatte ich. Aber viel mehr nicht. Die ganze Entwicklung der Geschichte, die einzelnen Episoden und Handlungsverläufe, das hatte ich nicht. Ich wusste einfach noch nicht, wie die Party sich entwickeln wird. Ich wollte eine Energieverlagerung inszenieren. Das konnte ich, weil die Tänzer und Schauspieler so bereitwillig mitgemacht haben.
Ich wusste also nur, dass die Filmparty ausgelassen beginnt und dann im zweiten Teil völlig eskaliert. Das habe ich dann auch von meinen Darstellern verlangt. Dafür habe ich ihnen Videos und Internetfilme gezeigt von Menschen, die unter Drogeneinfluss abgehen und die Kontrolle verlieren. Sie sollten sich daraufhin selbst den Kontrollverlust ihrer Figur erarbeiten.
Das habe ich Ihnen nicht mehr vorgeschrieben. Meine Darsteller waren irritiert, sie wollten mehr Informationen haben über ihre Figuren, wollten wissen, was sie sagen sollten. Aber ich habe ihnen nichts gesagt, nur, dass sie einfach reden sollen. Wenn ihr gut seid, habe ich gesagt, dann behalte ich euren Dialog im Film und wenn nicht, schneide ich ihn raus. Aber fast alle improvisierten Dialoge sind im Film dringeblieben. Das hatte auch pragmatische Gründe, weil wir nur 15 Drehtage hatten und alles chronologisch drehen mussten. Dadurch konnte ich die Dramaturgie des Abends besser fassen.

"Der entspannteste Dreh, den ich je gehabt habe"

Deutschlandfunk Kultur: Nun waren Tänze wie Vouging oder Crumping, von denen Sie eingangs sprachen, nicht nur Tänze, sondern auch soziale Bewegungen. Minderheiten verschafften sich so einen Raum jenseits des Mainstreams. Das waren Tänze in die Freiheit. Sie kehren das in "Climax" ja um, die Tänzer tanzen sich direkt hinein die Hölle. So scheint es zumindest.
Gaspar Noé: Nein, das sehe ich nicht unbedingt so. In "Climax" performen die Tänzer gemeinsam eine Show, ganz egal was da jetzt innerhalb der eigentlichen Geschichte passiert. Die Ebene der kollektiven Performance ist mir wichtiger. Ich wollte unterschiedliche Tanzstile als unterschiedliche Ausdrucksformen der Figuren inszenieren. Ich wollte Energien freisetzen. Erst drei Tage vor Drehbeginn haben wir die Tänzer und Darsteller miteinander bekannt gemacht. Es kam sofort zu stundenlangen Dance-Battlen. Es wurde sofort gezeigt, wer man ist und was man kann. Und diese Energie war dann auch am Set da. Es war der lustigste und entspannteste Dreh, den ich je gehabt habe.

Deutschlandfunk Kultur: Man könnte ja auch sagen, dass der beste Tänzer im Film, die Kamera selber ist, weil sie sich rastlos an die Figuren heftet und fast schwindelige Bewegungen vollführt …
Gaspar Noé (energischer Widerspruch): Nein, nein, nein! Die Tänzer sind die besten Tänzer. Die Kamera ist unwichtig! Ich habe die Kamera für "Climax"gemacht. Bis auf die erste Einstellung, die eine Kranfahrt ist, ist alles mit Handkamera gedreht, um möglichst nah an den Tänzern zu sein. Das wirkt zwar nicht so auf den ersten Blick. Aber es ist wirklich alles mit Handkamera gedreht. Ich rannte hinter den Tänzern her, war bei ihnen auf der Tanzfläche. Das Bild war dadurch häufiger verwackelt, das mussten wir dann später nachbearbeiten.
Ein tanzendes Paar im Halbdunkel schreit sich an.
Kontrollverlust: Szene aus "Climax" von Gaspar Noé.© Alamode Filmverleih

Warum Smartphones Kinostoffen schaden

Deutschlandfunk Kultur: Es war Ihnen wohl sehr wichtig, dass der Film Mitte der 90er angesiedelt ist. Warum?
Gaspar Noé: Naja, "Climax" beruht ja auf wahren Tatsachen, die ich ungern näher preisgeben möchte. Aber die Drogenparty, die eskalierte, hat es so gegeben, und sie fand 1996 statt. Es schien mir nicht sinnvoll, die Handlung ins Heute zu versetzen. Alles wäre anders verlaufen. Heute hat ja jeder ein Smartphone. Damit hätten die Tänzer sofort Hilfe holen können. Das war damals nicht so einfach möglich, und dadurch gab es auch diese in sich geschlossene Atmosphäre bei der Veranstaltung. Auf diese Weise konnte auch besser den Wahn und die Paranoia erzeugen.
Außerdem wäre alleine die Anwesenheit der Smartphones der Tod für einen Kinoerzähler wie mich. Diese Texterei produziert eine sehr kalte und abweisende Form der Kommunikation. Wie soll man das denn zeigen? Tanzen ist sehr filmisch. Da ist Bewegung, Energie, Eros. Kämpfe, Akrobatik, das ist filmisch. Jemand der schreibt, das ist nicht filmisch. Ein Hacker, der in die Tasten haut ist auch nicht filmisch.
In aktuellen Filmen finden Sie alle zehn Minuten eine Nahaufnahme eines Handys. Das ist dumm. Außerdem entwickelt sich die Technik so rasant, dass die Einstellung dieses Handys in zehn Jahren sehr veraltet wirkt und keine Kraft mehr entwickelt. Alte Telefone waren viel spannender. Da konnte man zeigen, wie jemand den Hörer abnimmt, man konnte mit der Kamera rumfahren, konnte das Telefon laut machen, so dass man den einen Anrufer noch hörte. So funktionieren doch alle Hitchcockfilme. Und sollte das nicht das Ziel sein, wenn man schon einen Film macht, sollte er dann nicht auch filmisch gedacht sein?

Trauer um die erotische Kultur der 90er

Deutschlandfunk Kultur: Interessant ist ja auch, dass nicht gerade viele Filme Geschichten aus den 90ern erzählen. Wobei ja die 90er-Jahre sonst gerade eine Art Revival feiern. Was hat Sie daran interessiert? Nostalgie?
Gaspar Noé: Nein, keine Nostalgie. Ich glaube, das liegt einfach auch an der Altersstruktur der meisten Regisseure. Kollegen, die jetzt in ihren 50ern sind, wollten Geschichten erzählen aus der Zeit, die sie filmisch am stärksten geprägt hat. Und das sind dann in dem Fall noch (!) die 80er-Jahre.
Ich finde aber, dass sich das ändert. Bei mir ist es ja ähnlich. Ich bin großgeworden in einer Zeit, in der ich meine Filme noch auf VHS und im Kino sehen konnte. Ich weiß noch, wie toll es damals war, eine VHS zu kaufen. Damals dachte ich: "Großartig! Jetzt besitze ich diesen Film." Das ist vielleicht nostalgisch, aber so war das in den 80ern und frühen 90ern. Das andere, was ich an dieser Zeit vermisse, ist der erotische Film und die Kultur der Erotikmagazine. Das ist alles verschwunden. Wenn man sich heute ein Playboy-Magazin kauft, sieht man nur Werbung für Uhren und Parfum. Und Mädchen in Bikinis. Nicht mal einen Nippel bekommt man zu sehen. Das ist doch peinlich und traurig, dass alles jetzt soweit gekommen ist.

Wenn das starke Ende auch ein starker Anfang ist

Deutschlandfunk Kultur: Sie gehen sehr frei mit Erotik um, aber auch mit der Filmdramaturgie. "Climax" beginnt mit dem Ende. Der Anfang ist irgendwann in der Mitte versteckt. Die Chronologie zerbröselt…
Gaspar Noé: Das lag daran, dass ich mir nicht sicher war, wie ich das Ganze überhaupt zusammensetze. Ich hatte ja kein Drehbuch. Ich wusste, dass "Climax" aus zwei Teilen und einem Epilog bestehen sollte. Und dann hat es eines Tages in Paris geschneit. Alles war weiß und ich dachte mir, eine gute Szene für den Schluss, wenn das blutende Mädchen im Schnee kollabiert. Ich organisierte schnell eine Drohne und die Schauspielerin und wir drehten diese Szene. Dann war das fertig und ich dachte: Warum nicht damit anfangen? Auch wenn es das Ende ist.
Und ich hasse den Filmabspann. Er ist so lang und langweilig aufgearbeitet. Deshalb hab ich ihn auch gleich an den Anfang geschoben und etwas beschleunigt. Ich wollte, dass "Climax" mit einem starken Bild endet und nicht danach mit einem Abspann kaputt gemacht wird. Das tote Mädchen im Schnee ist chronologisch zwar das Ende, aber eben auch ein guter Anfang. In einem Film über die Titanic würde ich auch erst zeigen, wie die Titanic den Eisberg rammt. Das wissen wir ja. Aber die Frage, wer wird überleben, welche Geschichten spielen sich davor und danach ab, das muss man noch erzählen und das steigert ja auch die Spannung. Obwohl meine Struktur sehr offensichtlich ist, werde ich dennoch häufig gefragt: Wenn Ihr Film schon "Climax" heißt, was ist denn für Sie der Höhepunkt der Geschichte? Und ich sage dann immer: Alles! Der ganze Film ist ein reiner Höhepunkt.

"Ich operiere in einem komplexen Bezugsgewebe"

Deutschlandfunk Kultur: Sie arbeiten viel mit filmischen Bezügen und machen das in "Climax" sehr transparent. Es gibt zu Beginn eine Einstellung eines Fernsehers, in dem wir die Bewerbungsvideos der Tänzer sehen und dann sehen wir an der Seite aber auch viele Filmbücher und alte VHS-Kassetten.
Gaspar Noé: Ja, alles was dort zu sehen ist, gehört mir. Vieles hat französische Titel. Z.B. "Labyrinth Man" ist eigentlich David Lynchs "Eraserhead". Oder "Schizophrenie" ist Gerald Kargels österreichischer Kultfilm "Angst", den ich über 50 Mal gesehen habe und der zu meinen fünf Lieblingsfilmen aller Zeiten gehört. Das sind natürlich direkte Inspirationen für "Climax", aber nicht nur.
Es ist vor allem eine Geste der Bescheidenheit. Ich zeige diese Filme, weil ich sagen will, dass ich nichts Neues erschaffen habe, ich operiere in einem dichten und komplexen Bezugsgewebe und maße mir nicht an zu sagen, ich sei bahnbrechend.
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