Garri Kasparow im Interview

"Putin gehört vor ein Kriegstribunal"

Garri Kasparow im Studio von Deutschlandradio Kultur.
Garri Kasparow im Studio von Deutschlandradio Kultur. © Deutschlandradio / Andreas Buron
Von Ulrich Ziegler · 15.10.2015
Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow fordert den Westen auf, geschlossen gegen den russischen Präsidenten vorzugehen. Nur wenn man einen Aggressor mit aller Macht bekämpfe, könne man sich schützen, sagte er im Deutschlandradio Kultur.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kasparow, vor einer Woche hatte ich die Gelegenheit, mit Andrij Sadowyji, Oberbürgermeister der Stadt Lviv, dem ehemaligen Lemberg, in der Ukraine zu reden. Sadowyj ist liberaler Aktivist, bekennender Christ und Vorsitzender der Partei Samopomitsch, übersetzt "Selbsthilfe". Und er hat folgenden Satz gesagt:"Die Russen schätzen und ehren nur die Starken. Deshalb müssen auch wir stark sein." Hat er Recht?
Garri Kasparow: Da kann ich nur voll und ganz zustimmen. Ich denke, die Ukraine hat sehr, sehr schwierige Lektionen lernen müssen. Nur wenn man einen Aggressor bekämpft mit all der Macht, die man zusammennimmt, kann man sich schützen und wird nicht zerstört. Und ich denke, die Ukraine hat darüber hinaus auch verstanden, dass ohne starken Widerstand im Kampf gegen die russische Aggression sie auch von Europa komplett im Stich gelassen werden.
Deutschlandradio Kultur: Aber Tatsache ist auch, dass Russland sich auf der Weltbühne wieder zurückgemeldet hat. Könnte man sagen, sie haben sich an den Verhandlungstisch zurück gebombt, wenn man die jüngsten Ereignisse in Syrien betrachtet?
Garri Kasparow: Na ja, also, das Konzept, sich an den Verhandlungstisch zurückzubomben, ist eines, das mir als Oxymoron erscheint. Wenn man Verhandlungen führt, muss man natürlich die Regeln respektieren. Man muss natürlich auch die Abkommen, die man unterzeichnet hat, respektieren.
Was hat Putin in den letzten Jahren gemacht? Genau das Gegenteil davon: Die Annexion der Krim, die Invasion der westlichen Krim, unterschiedliche Abkommen, die zuvor Russland mit der Ukraine und anderen Ländern unterzeichnet hat, die nun komplett nicht eingehalten wurden, also das Völkerrecht. Und auch sein Verhalten in Syrien, wo er nun unilateral versucht, das mörderische Regime von Assad zu schützen. Ich denke, das gibt ihm keinen Platz am Verhandlungstisch.
Man muss natürlich den russischen Präsidenten sehen, auch seine militärische Kraft, so schlimm das auch ist, aber ich hoffe natürlich, dass die westlichen Mächte letztlich erkennen werden, dass der Platz von Wladimir Putin nicht am Verhandlungstisch zu finden ist, sondern vor einem internationalen Kriegstribunal.
"Ich denke, der Westen hat Schwäche gezeigt"
Deutschlandradio Kultur: Wenn Putin sich so profiliert, wie er es getan hat, war der Westen in den letzten Monaten, vielleicht in den letzten Jahren einfach zu schwach?
Garri Kasparow: Ich denke, der Westen hat Schwäche gezeigt. Ich würde es aber vielleicht eher Untätigkeit nennen. Das hat natürlich auch mit den Ereignissen des Kalten Krieges zu tun. Nach der Wiedervereinigung von Deutschland, nach dem Kollaps der Sowjetunion ist es doch so, dass alle diese fröhliche Stimmung genießen. Alle feiern nun den Sieg der freien Welt. Und diese fürchterliche Vergangenheit, die zur Geschichte gehört, von der man sich wünscht, dass sie nie mehr zurückkommt. Die Kräfte, die Mächte, die sich nun gegen die Modernität erheben, die sich gegen Demokratie erheben, die auch gegen die freie Welt kämpfen, die werden nun stärker.
Ich denke, der Westen und die anderen haben Putin häufig zu lange ignoriert und eben nicht auf Konfrontation gesetzt. Das heißt, eine Person wie Putin muss gestoppt werden. Die Ambitionen dieser Person müssen gestoppt werden. Denn wenn man das nicht tut, dann gehen solche Personen weiter. Diktatoren fragen nicht nach dem Warum. Sie fragen nur: Warum nicht?
Deutschlandradio Kultur: Herr Kasparow, aber genau das ist doch die 1000-Dollar oder Eine-Milliarde-Dollar-Frage: Wie kann man Putin stoppen? – Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wenn der amerikanische Präsident Obama vor eineinhalb Jahren gesagt hat, Russland sei eine Regionalmacht und es gäbe schlimmere Bedrohungen, hat er damit einen Riesenfehler gemacht, Öl ins Feuer gegossen und ihn eben nicht gestoppt?
Garri Kasparow: Ich werde an dieser Stelle nicht sagen, dass der Westen, damit meine ich natürlich sowohl das vereinte Europa, Westeuropa und die USA als auch andere demokratische Staaten, eine Koalition gründen müssten und mit all ihrer Macht sich Putin zu widersetzen. Das hätte möglicherweise ein positives Ergebnis. Aber ich weiß aus der Geschichte: Wenn wir heute die Dinge nicht angehen, wird das Problem morgen nur noch größer und übermorgen noch größer.
Vor zwei Jahren war es so, dass der Westen die Chance hatte, Baschar al-Assad zu entfernen, nachdem er diese rote Linie überschritten hat, die von Obama gezogen wurde. Das war keine leichte Entscheidung. Es wäre schwer gewesen. Aber wenn man den Menschen 2013 die Bilder zeigen könnte von 2015, ich glaube, dann gäbe es deutlich mehr Entschlossenheit, auch bei den europäischen Politikern mit Blick auf die Unterstützung militärischer Aktionen gegen Baschar al-Assad.
Wenn mich die Menschen fragen nach Putins gegenwärtigen Aktionen und wie man ihn stoppen kann, dann sage ich immer das Folgende: In der Geschichte gab es Momente, die von deutlich größerer Gefahr gekennzeichnet waren. Und sagen Sie mir nun nicht, dass Putin heute gefährlicher ist als Josef Stalin 1948. Aber Truman hat nicht gezögert. Er hat Berlin gerettet. Und er stand Stalin 1948 Stalin gegenüber. Ich denke, wir sollten nicht vergessen, wie gefährlich die Sowjetunion war und wie mächtig Stalin damals war. Es gab vielerlei Momente der offenen Konfrontation während des Kalten Krieges. Aber wir wissen, wenn nicht die westlichen Staaten Entschlossenheit gezeigt hätten, um die sowjetische Aggression zu stoppen, dann hätte es auch nicht funktioniert.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben einmal gesagt: Putin und seine Eliten seien ein Krebsgeschwür, das entfernt werden müsse. – Das ist doch ziemlich klare Kante, die Sie da vorgeben.
Garri Kasparow: Es ist falsch zu sagen, dass die Alternative zu Appeasement, also Beschwichtigung, Krieg wäre. Die Welt ist natürlich nicht in Schwarz und Weiß einzuteilen, wie es das im Schach gibt. Es gibt auch Nuancen dazwischen. Natürlich, es gibt Putin und die Elite. Und man muss Situationen schaffen, in denen Putin, der das Land regiert als eine "One Man Show", auch von vielen seiner Verbündeten als etwas erkannt wird, was es wirklich ist.
Gegenwärtig stellt Putin die westliche Welt als etwas Schwaches dar. Sanktionen, die beispielsweise auferlegt wurden, sind besser als nichts, aber die Sanktionen gegen Russland sind relativ milde. Man könnte vieles tun, um zum Beispiel Staatsunternehmen wie Gazprom zu schwächen. Aber etwas anderes ist noch wichtiger, die Einzelpersonen, auch das darf man nicht vergessen, die Oligarchen, die sich nun nicht wohl fühlen, weil sie diese großen Probleme sehen bei den westlichen Ländern.
Die russische Elite ist zutiefst verwurzelt in den westlichen Finanzstrukturen. Und der Schaden, der verursacht werden kann mittels strikter Sanktionen, könnte ausreichen, um Putin zu schwächen.
Deutschlandradio Kultur: Die Europäer sagen immer, wir brauchen die Russen. Die Russen brauchen uns. Und Sanktionen würden am Schluss beiden Seiten schaden. – Das halten Sie dann für falsch?
Garri Kasparow: Wenn Sie sich in den Finger schneiden, dann wird das bluten. Wenn Sie Harakiri durchführen, gibt's auch Blut. Aber es gibt dazwischen einen Unterschied. Europa leidet natürlich auch, aber ich denke, das kann man nicht vergleichen mit dem Schaden, der der russischen Wirtschaft angetan wird. Wenn man Geschichten hört zu Öl und Gas und wie der Euro von der russischen Gasversorgung abhängt, dann schaue ich mir die Zahlen an.
Europa empfängt ca. 30 Prozent seines Gases aus Russland. Russland verkauft 80 Prozent seiner Gas- und Ölvorkommen nach Europa. Das heißt, wir sehen doch ganz deutlich, wer hier profitiert und wer am Hebel sitzt. Es geht nicht nur um die Volkswirtschaft. Es geht auch um den politischen Willen. Und die Tatsache, wenn man nicht sieht, dass man Putin heute stoppt, dann wird der Einsatz sich erhöhen. Denn Putin wird die Säule der europäischen Stabilität schwächen, zerstören. Und das ist entscheidend für die europäische Vereinigung. Und wenn das wieder straflos passiert wie in der Vergangenheit, dann wird er einfach nur zunehmend Appetit bekommen, dies weiter durchzuführen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben vor wenigen Monaten gesagt, dass mindestens der Westen Waffen an die Ukraine liefern müsse. Das heißt, wir sind bereit, ein Bauernopfer zu bezahlen, wenn wir im Bild von Schachspielen denken, um Schlimmeres zu verhindern?
Garri Kasparow: Na klar brauchen sie Waffen, aber sie brauchen auch politische Solidarität. Es geht nicht nur um die militärische Versorgung, die ihnen helfen könnte, sich der russischen Putin-Aggression zu widersetzen. Nein, wir dürfen alles andere auch nicht vergessen. Viele Ukrainer widersetzen sich der Aggression Russlands, die Mehrheit der ukrainischen Soldaten widersetzt sich dem. Denn sie wollen mit Europa leben. Sie wollen nicht unter einem Putin-kontrollierten Land leben.
Und ich denke, es sendet auch eine Botschaft aus an die russischen Generäle und die russische Öffentlichkeit, nämlich dass der Westen eine ehemalige Sowjetrepublik nicht im Stich lässt.
Und noch einmal: Dieser Appetit von Putin vergrößert sich vielleicht und betrifft demnächst die baltischen Staaten – Litauen, Estland, Lettland. Ich meine, das sind NATO-Länder. Und wenn Putin sich neu entscheidet, dass er möglicherweise verrückt wird, dann kann man doch gar nicht anders. Dann kann man gar nicht anders, als NATO-Länder zu verteidigen. Und ich denke, um diese sehr gefährliche Situation zu vermeiden, wo die Nato schlicht verpflichtet sein wird, aufgrund ihres Abkommens, den Nachbarn zu helfen, wäre es nun besser, der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen. Denn hier könnte letztlich Putins Aggression noch gestoppt werden.
"Obama redet, Putin agiert."
Deutschlandradio Kultur: Wenn die Welt droht aus den Fugen zu geraten, dann blickt eigentlich die ganze Welt nochmal Richtung Weißes Haus, auf den amerikanischen Präsidenten, auf die Weltmacht. Was kann Barack Obama in den nächsten zwei Jahren, die er noch hat, tun? Muss er umsteuern?
Garri Kasparow: Gott sei Dank hat er 14 Monate noch. Zwei Jahre wären viel zu viel. Ich denke, er hat schon genug Schaden angerichtet mit der Zerstörung des Rufes der amerikanischen Präsidentschaft. In der Präsidentschaft geht es nicht nur darum, Reden zu halten oder Truppen anderswo hinzuschicken, nein, es gibt auch ein anderes Extrem.
George W. Bush hat immer Macht verwendet. Obama tut das gar nicht. Und ich denke, der Mittelweg besteht darin, und das ist auch die richtige Macht und die Kraft, Stärke zu zeigen. Ronald Reagan sagte: "Tear down this wall!" Ronald Reagan hat nicht auf militärische Macht gesetzt bzw. nur wenig im Vergleich zu den folgenden Präsidenten nach ihm. Aber es hatte eben auch mit Glaubwürdigkeit zu tun. Heute nimmt niemand mehr Obama und sein Außenministerium ernst. Obama redet, Putin agiert.
Mit Blick auf den Mittleren Osten beispielsweise: Die USA haben Putin Boden überlassen. Obama möchte Abkommen schließen. Er möchte Hände schütteln. Aber es geht nicht nur darum, ein Abkommen zu unterzeichnen, und darum, die Beziehungen zu realisieren und zu verbessern. Nein, es geht um mehr.
Und als ich sah, dass Obama mit Fidel Castro die Hände geschüttelt hat, dann habe ich mich gefragt: Mensch, wie viele sitzen denn bitte noch im Gefängnis? Und wem wird hier geholfen? Obama übersieht häufig, dass für Putin die Konfrontation mit Amerika letztlich ein richtiger Nährboden ist. Sein gesamtes Machtkonzept fußt auf der Politik, die sich darauf konzentriert, die USA zu schwächen und auch die traditionellen Werte zu schwächen. Hier denke ich an unterschiedliche Länder.
Das heißt, die Konfrontation ist unvermeidbar. Und es ist ganz entscheidend, dass wir das früh angehen und nicht auf die lange Bank schieben. Denn dies wird zu Lasten unserer Kraft gehen.
Deutschlandradio Kultur: Die deutsche Kanzlerin hat vor nicht allzu langer Zeit einmal gesagt, sie verstehe Putin nicht mehr, wisse nicht, was er will. Jetzt haben Sie lange Jahre in der Sowjetunion gelebt. Können Sie uns vielleicht aufgrund Ihrer Geschichte erzählen, was treibt Putin an? Wo möchte er hin? Möchte er einfach wieder bei den Großen dabei sein? Oder um was geht es ihm?
Garri Kasparow: Putin hat nur ein Ziel. Er will überleben als russischer Diktator. Und Diktatoren haben manchmal keine andere Wahl, als alles zu tun, einfach um in der Machtposition zu bleiben. Und was Putin macht innerhalb und außerhalb von Russland, zielt darauf ab, seinen Machterhalt zu stärken. Sein Angriff auf die Ukraine, seine militärischen Invasionen in Syrien, seine Rhetorik, seine aggressive Propaganda. auch außerhalb von Russland, all das ist nur mit Blick auf seinen Positionserhalt ausgerichtet. Denn er, wie jeder andere Diktator, weiß, dass Schwäche zu zeigen, auch nur einen Hauch von Schwäche zu zeigen, sein Ende bedeuten könnte.
Er verlässt sich nicht auf Meinungsumfragen, öffentliche Umfragen oder russische Gesetze. Nein, er ist der Diktator. Und ein Diktator muss sich selber präsentieren als einen Unbesiegbaren, der nur Siege einfährt, selbst wenn diese Siege zum Teil nur virtuell zu verstehen sind.
Ich habe Kanzlerin Merkel getroffen, die ja in Ostdeutschland geboren und aufgewachsen ist. Ich denke, sie hat ein besseres Verständnis von Putin als viele andere in anderen westeuropäischen Ländern.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kasparow, man könnte vielleicht auch mal das Schachbrett umdrehen. Wenn wir uns das Chaos auf der Welt anschauen – in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien, dann waren die Amerikaner in den letzten Jahren immer mit beteiligt und haben ihre Aufgabe wohl nicht richtig erfüllt. Oder hätten sie sie besser erfüllen können?
Garri Kasparow: Es ist natürlich einfach diejenigen zu kritisieren, die etwas tun. Ich möchte auf keinen Fall apologetisch sein mit Blick auf die Fehler, die von der amerikanischen Regierung gemacht wurden. Wir können uns natürlich einige der falschen Züge der W. Bush Regierung anschauen. Aber als jemand, der in einem kommunistischen Land geboren und aufgewachsen ist, da kann ich natürlich nicht das kritisieren, was andere tun.
Ich sehe natürlich, dass es nun dramatische Konsequenzen gibt, natürlich auch mit Blick auf Irak 2003, dass Saddam Hussein aus dem Amt getrieben wurde. Ich denke, man kann sich unterschiedliche Züge anschauen, Schritte anschauen, die unter anderem George W. Bush getan hat, und diese kritisieren. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass im Jahre 2008 der Irak relativ friedlich war. Da hatten wir nicht Millionen von Flüchtlingen aus dem Irak und Syrien. Al-Qaida war besiegt. Die Amerikaner haben eine Art Friedensvertrag, Friedensvereinbarung mit den sunnitischen Stämmen im Irak abgeschlossen. Und heute haben wir eine andere Situation.
Selbst wenn man glaubt, dass diese Invasion damals ein Fehler war, ist es so, dass der Abzug der amerikanischen Truppen 2009/ 2010 ein deutlich größerer war. Denn im Schach macht man einen Fehler, aber man kann dann nicht mehr den Zug zurücknehmen. Nein, man muss mit dem weiterspielen, was auf dem Schachbrett steht. Und Obama hat natürlich hier nun die amerikanischen Truppen aus diesen Schlüsselregionen zurückgezogen und hat damit eine falsch Botschaft zu den regionalen Mächten ausgesendet, als auch natürlich in Richtung Putin.
Deswegen müssen wir mit dem spielen, was wir haben an Material, mit der Hand, die wir quasi haben. Und ich denke, der amerikanische Ruf und das Image der amerikanischen Regierung, wenn sich dieser Ruf und dieses Ansehen nicht verbessern, werden wir weitere Krisen sehen.
Man kann natürlich sagen, klar, es gibt einen Weltpolizisten, obwohl wir nicht wollen, dass die USA die Rolle des Weltpolizisten wahrnimmt. Aber wenn es keine Polizei gibt, wenn es keine Kraft gibt, um die Regeln wieder auf den Tisch zu bringen, die eingehalten werden, was macht man dann?
In der Politik gibt es natürlich gewisse Rechte. Machtreduzierung führt zu einem Vakuum. Das wird dann genutzt von Leuten wie Putin und anderen, die davon profitieren wollen. – Der IS, Al-Qaida, die Welt ist doch miteinander verknüpft und wir können uns hier nicht loslösen von diesen Bösen und sagen, die leben weit weg. Nein, heutzutage mit den modernen Technologien, sind wir nicht länger geschützt von den Krisen anderswo.
Deutschland ist 5.000 km entfernt von dem Nahen Osten. Aber nichtsdestotrotz hören Sie heute schon das Echo der Krise dort mit Hunderttausenden von Flüchtlingen, die gegenwärtig in Ihr Land kommen.
"Die amerikanische Außenpolitik ist dazu verpflichtet sich zu verändern"
Deutschlandradio Kultur: Hillary Clinton hat gestern gesagt, sie würde, wenn sie Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika werden würde, eine härtere Gangart gegen Putin fahren. Die Republikaner würden es wahrscheinlich ohnehin tun. Also werden wir eine andere amerikanische Außenpolitik nach den Präsidentschaftswahlen oder vielleicht schon in den nächsten Monaten erleben?
Garri Kasparow: Ich denke, das ist unvermeidbar. Wer immer auch ins Weiße Haus einziehen wird nach den nächsten Präsidentschaftswahlen, wird gezwungen sein, die Kraft der amerikanischen Regierung wieder zu stärken. – Ob das die Republikaner sind, ob das Hillary Clinton ist, ich denke, die amerikanische Außenpolitik ist dazu verpflichtet sich zu verändern, und zwar drastisch zu verändern, wahrscheinlich mehr mit den Republikanern als mit Hillary Clinton.
Aber ich denke, es gibt hier einen Trend. Dieser Trend ist offensichtlich. Aber ich denke, wir sehen doch jetzt auch schon ein paar Veränderungen in den letzten Monaten unter Obama. Das heißt, manchmal ist es so, dass diejenigen, die sich für Appeasement, als Beschwichtigung einsetzen, keine andere Wahl haben, als etwas zu tun, weil sie Problemen gegenüberstehen, die eine harte Antwort erfordern, und zwar von jedem Segment der Gesellschaft.
Deutschlandradio Kultur: Was sagen Sie zu einem Satz von Jean-Claude Juncker? Der ist nicht ganz unwichtig in Europa. Er ist EU-Kommissionspräsident. Der hat diese Woche gesagt: Man müsse die Russen einfach künftig anständig behandeln. – Ist das naiv?
Garri Kasparow: Na ja, ich denke, das ist wirklich kein passendes Statement. Spricht er über Russland und die Russen oder über Putin? Das muss man unterscheiden.
Natürlich, er vertritt die Interessen von ein paar Lobbygruppen, die natürlich auch mit Putin im Kontakt stehen. Aber es wäre doch auf Kosten der Russen im Land, als auch auf Kosten europäischer Bürger. Putin ist ein Diktator, der sich auch gegen die Feinde im Land zur Wehr setzt, als auch gegen die Feinde im Ausland. Und er verlässt sich natürlich auf Lobbyisten, auf Geld, das fließt im Bereich von Propaganda. Er interagiert auch mit westlichen Medien, westlichen Unternehmen.
Und ich denke, solche Aussagen stärken doch Putin nur, noch aggressiver zu werden. Deswegen wünschte ich mir eine anständige Behandlung der russischen Bürger. Das wäre deutlich besser als eine solche Aussage von den europäischen Top-Bürokraten.
Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie eigentlich die Chance, dass in Russland die Opposition möglicherweise in den nächsten Monaten oder Jahren gegen Putin sich nochmal wehrt? Die Oligarchen, Sie haben das am Anfang genannt, dass sie einfach genug haben von Putin, das Land von innen oder Putin von innen ausgehebelt wird?
Garri Kasparow: Ich denke, wir sollten hier nicht ihre Zuhörer und die deutsche Zuhörerschaft täuschen. Mein Freund Boris Nemzow wurde vor dem Kreml erschossen. Er war einer der führenden Oppositionsaktivisten, ehemaliger stellvertretender Premierminister – wurde erschossen! Und diejenigen, die dafür verantwortlich sind, wurden noch nicht gefunden. Ich denke, das sagt Ihnen doch schon etwas zum Schicksal der Opposition. Viele Oppositionsangehörige, meine Freunde, sind im Gefängnis oder tot. Putin ist ein Diktator. Und wenn Sie über die russische Opposition sprechen, dann ist das genauso, als ob Sie über die deutsche Opposition 1939 sprechen.
Ich denke, das funktioniert so nicht. Man kann das vielleicht von außen besprechen. Aber nun mit Blick auf die Oligarchen oder auch den normalen Bürger, das doch da, wo die Gefahr herkommt. Denn sie müssen verstehen, dass die Macht von Putin Konsequenzen für das eigene Leben haben wird. Und gegenwärtig wird diese Botschaft noch nicht so wirklich versendet. Man muss der russischen Bevölkerung sagen, dass die Annexion der Krim einen Preis hat. Der Krieg in der Ukraine hat einen Preis. Die russische Putin-gesteuerte Außenpolitik hat einen Preis. Es gibt unterschiedliche Gruppen in der russischen Gesellschaft, die Oligarchen, die Mittelklasse usw. Und es ist wichtig, dass alle diese klare Botschaft hören, dass Putin eine Sackgasse ist für das Land und dass Putin nicht ein unbezwingbarer Sieger ist, sondern ein Verlierer.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kasparow, demnächst erscheint Ihr Buch mit dem Titel "Winter is coming - Warum Wladimir Putin und die Feinde der freien Welt gestoppt werden müssen". Sie haben das jetzt erläutert. Wenn das Ende Oktober erscheint, mitten im Vorwalkampf, Präsidentenkandidatensuche in den USA, ist das auch ein Stück Wahlkampf für die Republikaner?
Garri Kasparow: Das Buch ist eine Geschichte über die letzten 25 Jahre meiner eigenen Erfahrungen. Und natürlich konzentriere ich mich auf Russland, aber auch auf andere europäische und andere Orte. Ich kritisiere Politiker unterschiedlichster Couleur. Ich schaue mir die Politiker an. Und es geht mir gar nicht so sehr um die Namen, sondern die Politiker und das, was sie tun.
Und ich kritisiere auch die Politiker von beiden Seiten. Darüber hinaus lobe ich sie auch: Truman, John F. Kennedy, Reagan. Ich beziehe einfach nicht Position in politischer Hinsicht und schlage mich nicht auf die Seite einer Partei. Aber wenn es um die Außenpolitik geht, dann möchte ich die Wiederherstellung der amerikanischen Stärke sehen, als einen Garant des Friedens, des Wiedererstarkens unserer Werte.
Deutschlandradio Kultur: Und die Tatsache, dass John McCain, der ehemalige Hoffnungsträger der Republikaner auf der Titelseite erscheint mit einem Zitat, das ist kein Zufall?
Garri Kasparow: Nun, es gibt ja fünf Zitate von unterschiedlichen Autoren, von unterschiedlichen Einzelpersonen. Wissen Sie, ich habe versucht, Unterstützung für dieses Buch zu bekommen, und zwar aus den unterschiedlichen Ecken. Und jetzt ergab es sich, dass John McCain der berühmteste davon ist. Übrigens, europäische Verlage haben das nicht auf die Titelseite genommen, die amerikanischen Verlage ja.
Man dachte hier wohl in Europa, dass der Name auf dem Cover nicht gut kommt. In den USA ist das anders. Das war letztlich eine Geschäftsentscheidung der Verlagshäuser.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kasparow, noch eine letzte Frage. Sie leben mittlerweile in New York. Sie haben die kroatische Staatsbürgerschaft angenommen. Sie haben das Schicksal von Boris Nemzow beschrieben. Sie sind trotzdem mit Herz und Seele noch Oppositionspolitiker, bezogen auf Russland. Sie haben es dargstellt mit der Auseinandersetzung um Putin. – Können Sie sich vorstellen, irgendwann nochmal als Oppositionspolitiker nach Russland zu gehen? Oder ist das einfach zu gefährlich?
Garri Kasparow: Natürlich kann ich zurück. Es geht nicht darum, wie ich nach Russland komme. Die Frage ist nur, komme ich auch zurück in die zivilisierte Welt. Wissen Sie, meine Mutter lebt ja noch in Moskau sowie mein Sohn mit meiner Mutter. Das heißt, ich behalte meine russische Staatsbürgerschaft. Und ich bin sehr aktiv, wenn es darum geht, mit anderen russischen Emigranten zusammenzuarbeiten, um die Vision der Zukunft für unser Land zu kommunizieren. Und ich hoffe einfach, dass so früh wie möglich meine Fertigkeiten notwendig sein werden, um ein Russland nach Putin wieder zu errichten.
Und ich denke, die schlechte Botschaft ist, dass wir alle nicht wissen, wann die Diktatur endet. Aber das Gute ist, auch Putin weiß das nicht.
Das heißt, Diktaturen haben normalerweise ein abruptes Ende. Und ich denke, es ist meine Aufgabe als ein russischer Bürger, dies zu tun. Jemand, der der Welt helfen möchte, Russland als etwas Gutes zu sehen und nicht länger als einen Feind zu sehen, als eine solche Person muss ich mich zur Verfügung stellen, wenn die Zeit dafür da ist.
Mehr zum Thema