Ganz weit weg von daheim

Von Frank Matheis · 26.12.2009
Eine Lebensgeschichte in kleinen Vignetten - nicht die Radioautobiografie einer reichen, wichtigen oder berühmten Person, sondern die eines saarländischen Jungen der Arbeiterklasse, der nach Amerika ging und dort ein neues Leben begann.
Es ist eine Geschichte über das Dazugehören und Nichtdazugehören, über den Wunsch dazuzugehören und darüber, dass dieser Wunsch in den Hintergrund tritt. Wir begleiten den Jungen auf seinen verschlungenen Wegen und sehen durch seine Augen die Erfahrungen eines deutschen Auswanderers. Diese Erfahrungen zeigen viele existenzielle Gemeinsamkeiten mit den Geschichten unzähliger Emigranten und Immigranten, in Amerika, in Deutschland und überall in der Welt. Die Lebensgeschichte führt vom Saarland nach New York im Lauf von 40 Jahren. Musik spielt in dieser Autobiografie eine Schlüsselrolle, zu den kleinen Geschichten hören wir den Soundtrack eines Lebens, von Elvis Presley bis Tom Waits. Die Originalstücke des amerikanischen Bluesmusikers Toby Walker, ebenso wie die musikalischen Beiträge des Autors, zusammen mit seinem musikalischen Duo-Partner, Lowry Hamner, sowie die Musik seines Vaters fügen der Erzählung eine weitere persönliche Dimension hinzu. Frank Matheis ist Direktor in einer internationalen Firma, die Fahrsysteme für Elektrofahrzeuge und für Rollstühle entwickelt. Seit vielen Jahren ist er nebenher als Musiker, Radio-Produzent und Schriftsteller tätig.

Auszug aus dem Manuskript:

Ich bin in der "Frankenzeit" geboren. Als kleiner Junge glaubte ich immer, ich wäre vielleicht sehr wichtig, weil man sogar eine ganze Zeit nach mir genannt hat. Aber die Sache ist anders. Das Saarland war damals französisches Schutzgebiet und die Währung war der Saarfranken. Die Deutschen hatten die D-Mark, die Franzosen den Franc und wir Saarländer hatten den Saarfranken. Erst ein Jahr nach meiner Geburt schloss sich das Saarland Deutschland an und die Deutsche Mark wurde auch unsere Währung. Vorher hatte es eine Volksabstimmung im Saarland gegeben, ob wir zu Deutschland oder Frankreich gehören wollten und meinem Vater fiel die Entscheidung sehr schwer. Trotzdem hatte er sich entschlossen, sein erstes Kind nach dieser Entscheidung zu nennen. Weil er ein echter Frankophiler war, hat er sich für Frankreich entschieden, und so kam ich zu meinem Namen, Frank. Nicht nach dem starken Germanischen Stamm, nicht nach dem ruhmvollen Reich der Franken, nicht nach Frank dem tapferen Speerwerfer, sondern einfach nach dem Geld der Franzosen.

Elvis Presley hatte einen weltweiten Hit mit dem Lied "Heartbreak Hotel" und die Revolution der Musik durch den Rock'n Roll war nicht mehr aufzuhalten.

Mein Vater sagte aber immer, dass er nicht verstehe, was die Leute an Elvis finden. Für ihn war Elvis ein Symbol des amerikanischen Pop-Kultur-Imperialismus und gut Gitarre spielen konnte der auch nicht. Die reichen Amerikaner wollten doch sowieso nur mit ihren großen Straßenkreuzern den deutschen Mädchen den Kopf verdrehen und mit ihren Dollars, die sie einfach verschleuderten.

Meine Mutter war erst achtzehn und hatte schon zwei Kinder. Mein Vater war ein Lehrling und hatte kein Geld. Es war irgendwann zu viel für sie und sie lief weg - mit einem Amerikaner. Alle sagten, dass meine Eltern einfach zu jung gewesen waren. Meine kleine Schwester und ich wurden zu unseren Omas gebracht- ich zu der einen, meine Schwester zu der anderen. So wurden wir getrennt.

Fritz Walter war der beste Fußballer auf der ganzen Welt, der Sputnik umkreiste schon ein Jahr lang die Erde und noch immer nicht hatten die Russen uns nicht mit ihren Geheimstrahlenwaffen in die Luft gesprengt.

Ich lebte mit meiner Oma in Neunkirchen, einer schmutzigen Stahlhüttenstadt. Alles war schwarz vom Ruß der Hütte, und die Luft stank immer nach den Abgasen vom Hüttenwerk. Oma putzte drei Mal in der Woche die Fenster. Rund um die Stadt waren Kohlengruben und der Himmel war immer rot. Dreimal am Tag gingen lange Schlangen von sauberen Männern aus allen Richtungen auf die Schicht in die Hütte und die Gruben. Sie trugen volle Thermosflaschen mit Kaffee und ein Butterbrot in der Ledertasche. Aus den Hütten und Gruben kamen die müden, schmutzigen Arbeiter und suchten eine Wirtschaft. Es gab nur zwei Arten von Menschen- katholische und evangelische. Meine Schwester wurde katholisch, weil mein Vater wieder geheiratet hatte und seine gesamte neue Familie war katholisch. Ich war evangelisch und blieb bei meiner Oma. In der Küche hatten wir ein Grundig Radio aus glänzendem Holz, und mein liebstes Lied war " Sie liebt dich, yeah, yeah, yeah" von den Beatles, die meine Oma nur "die Wilden" nannte. Uwe Seeler war der beste Fußballer auf der ganzen Welt, aber unser Spieler von Borussia Neunkirchen, der Elmar May, hat einen Eckball direkt in ein Tor verwandelt. Wir waren sogar in der Bundesliga und ich war mit meinem Opa auf dem Sportplatz und habe es selbst gesehen, wie der Elmar das Tor getroffen hat. Oma sagte immer, es gebe nichts Besseres auf der Welt als Brathähnchen, und am Anfang vom Monat gab es oft eins an Sonntagen. In dem Jahr kauften wir uns einen Fernseher, so wie die Nachbarn und jede Woche klebte ich am Bildschirm, wenn "Lassie", die Familienserie aus Amerika kam. In Amerika wohnte meine Mutter.

Original Musik und Erkennungsmelodie der Langen Nacht von Toby Walker

Auszug aus dem Manuskript:

Vor zwanzig Jahren kam ich mit meiner Familie nach New York, um eine neue Stelle bei einer anderen Firma anzutreten. In den 15 Jahren, in denen Bibiana und ich zusammen waren, waren wir elf Mal umgezogen. Wir kauften ein Haus, und vor dem Umzug musste ich versprechen, an einem Ort zu bleiben, damit unsere Tochter Maya ein normales Elternhaus hat, ohne ständig den Wohnsitz zu wechseln. Das Versprechen habe ich gehalten, und wir sind jetzt länger in New York als in allen anderen Staaten. Als unsere Tochter in der vierten Klasse war, fragte sie uns eines Abends beim Essen, mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck "Bin ich eigentlich chinesisch oder bin ich deutsch?" Anscheinend hatte Kinder in der Schule die Frage gestellt. Ich dachte einen Moment nach und sagte "Maya, Du bist Amerikanerin". Sie war mit dieser Antwort zufrieden und die kurze Identitätskrise war für immer überwunden.

Ich könnte ein Buch schreiben mit dem Titel "Mein Leben mit dem Blues". Die lebenslange Leidenschaft für diese Musik ist ziemlich ernst geworden. Nebenberuflich habe ich Artikel für die führenden Blues Magazine der Welt geschrieben, und bin mittlerweile Experte in diesem Genre. Zehn Jahre lang war ich DJ mit meinem eigenen Blues-Radio-Programm. Ich besitze fast zweitausend Blues und Jazz CDs. Über die Jahre hatte ich die Chance die meisten amerikanischen Blues Musiker persönlich kennen zu lernen und manchmal sogar mit ihnen zu spielen, darunter John Jackson, Toby Walker, John Hammond, und John Kay von Steppenwolf, dem Idol meiner Jugend. Aber am meisten Spaß hatte ich daran, ein paar Jahre lang mit Lowry Hamner als Blues-Duo zu spielen. Lowry sagte oft zu unserem Publikum hier in New York "Ich komme aus dem Land des Blues, Mississippi, tief unten in den Südstaaten, und mein Partner Fränk kommt auch tief aus dem Süden, aber aus dem Süden von Deutschland". Hier sind wir zusammen, mit dem alten Song "Big Road Blues".

Schon vor fünfundzwanzig Jahren schrieb ich an die deutsche Botschaft in der Hoffnung, meinen deutschen Pass wieder zu erhalten. Ich dachte, weil ich doch als Kind unfreiwillig die amerikanische Staatsbürgerschaft hatte annehmen müssen, sollte es kein Problem sein. Ich war überrascht als ein Beamter in San Francisco mir einen kalten Brief schrieb, worin er darlegte, dass ich mich in die Reihe all der Immigranten stellen muss, die nach Deutschland wollen. Ich könnte einen Pass beantragen und nach fünf Jahren könnte es sein, dass mein Antrag genehmigt wird. Ich konnte es nicht glauben und gab auf.

Doch die Sache ließ mir keinen Frieden. Jahrelang war es mir wichtig, diese Angelegenheit zu regeln, nicht aus irgendwelchen patriotischen Gründen, sondern als Ehrensache: Ich wollte als Kind nie den deutschen Pass aufgeben und hatte keine Wahl gehabt. Vor zwei Jahren beantragte ich mit Hilfe meiner Schwester offiziell die Rückstellung der deutschen Staatsangehörigkeit. Aber seit mehr als einem Jahr steckt mein Antrag in der Bürokratie fest, weil ich ein Dokument brauche, das ich sehr wahrscheinlich nicht von der amerikanischen Behörde erhalten kann. Aus lauter Verzweiflung schrieb ich an Oskar Lafontaine, den Vorsitzenden der Linken und früheren saarländischen Ministerpräsidenten. In kurzer Zeit kam eine klare Antwort von Wolfgang Neskocic, einem Richter vom Bundesgerichtshof in Berlin. Darin wurde mir ausführlich die rechtliche Grundlage für meinen Antrag dargelegt. Viele sprechen von Solidarität, aber hier traf sie wirklich zu. Es war wirklich herzerwärmend, eine solche direkte Hilfe der Linken von zuhause zu bekommen. Jetzt habe ich wieder Hoffnung, dieses Kapital endlich erfolgreich abschließen zu können.

Dieses Jahr sind Bibiana und ich vierzig Jahre lang in Amerika, und zum ersten Mal sind wir richtig stolz, Amerikaner zu sein. Obama bringt uns Hoffnung auf die Zukunft. Trotzdem will ich meinen deutschen Pass wieder haben und hoffe, irgendwann wieder heimzukehren, wenn auch erst im Ruhestand.

A Mississippi native, Lowry Hamner writes and performs original and traditional music in the "Americana" genre, the crossroads where the southern musical forms of blues, country, rock, and folk meet.

Auszug aus dem Manuskript:

Ich hätte nie geglaubt, dass alles so kommt, wie es jetzt ist. Ich war gegen den Schah von Persien und jetzt ist im Iran alles schlimmer. Ich war für Mugabe in Zimbabwe und jetzt ist dort alles schlimmer. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Die Berliner Mauer ist gefallen und Deutschland hat sich wieder vereinigt. Die USA hat einen schwarzen Präsidenten. Das alles hätte ich nie für möglich gehalten.

In Amerika, wo Sozialismus ein Schimpfwort ist, ist es irgendwie kein Problem wenn man eine Trillion Dollar vom Geld der Steuerzahler an die Banken und großen Firmen verschenkt. Wenn man armen Leuten hilft, ist es der schlechte Sozialismus, aber wenn man den reichen Firmen hilft, dann ist es Wirtschaftsanreiz.

Das Unglaublichste von allem ist, dass die USA im Fußball 2:1 gegen Kolumbien gewonnen hat. Jetzt kann kommen was will, jetzt glaube ich alles.

Eigentlich hatte ich Erfolg in allem, was ich anfing - in meinem Hauptjob bei der Firma, beim Radio, und auch beim Musizieren und im Musik-Journalismus. Das heißt, bei allem, außer einem. Ich schreibe nämlich Kurzgeschichten. Zuerst veröffentlichte ich mehr als 300 Musikartikel in Zeitungen und Magazinen, aber Kurzgeschichten fallen mir nicht so leicht. Zudem sind sie schwer zu veröffentlichen. Tausende von Autoren aus allen Ecken der englisch sprechenden Welt schicken ihre Geschichten an die wenigen Literaturmagazine und nur ein Dutzend Geschichten werden gedruckt.

Wenn ich mit einer Geschichte fertig bin, fängt das Redigieren an. Ich schreibe alles um, und wieder um. So arbeite ich manchmal ein ganzes Jahr lang an einer Geschichte. Manchmal redigiere ich alles, was ich eine Woche lang umgeschrieben habe, und schreibe es wieder genau so, wie es am Anfang war. Wenn eine Geschichte fertig ist, gebe ich sie jemandem zum Durchlesen - vielleicht meiner Tochter, die alles hasst, was ich schreibe. Oder meinem alten Freund, Bernd in Kentucky, dem auch nichts von mir gefällt. Jedes Mal, wenn er eine meiner Geschichten liest, erinnert er mich daran, dass richtige Kurzgeschichten eigentlich gut sind, wie zum Beispiel die von Franz Kafka. Meine findet er nicht so gut, wenigstens nicht so gut wie Franz Kafkas. Ich glaube, ich schreibe Kurzgeschichten, weil ich unbewusste masochistische Tendenzen habe. Denn wenn ich mit dem Schreiben fertig bin, fängt das Problem erst an. Dann schicke ich die Geschichte an Literaturmagazine, Webseiten und Buch Verlage. Autoren tun alles für das Privileg, veröffentlicht zu werden. So gut wie keiner wird für die mühselige Arbeit belohnt.

Nach dem vielen unbezahlten Schreiben, Umschreiben, und kritisiert werden, kommt die Enttäuschung der unsanften Ablehnung. Nicht nur einfache Ablehnung, sondern echte, totale und absolute Ablehnung. Und so geht es jahrelang. Ja, jahrelang.

Endlich war ein Verlag bereit, meine Kurzgeschichte zu veröffentlichen. Ich fühlte mich, als hätte ich ein Rendezvous mit Uma Thurman. So eine Erregung. Ich konnte es kaum erwarten. Endlich kam das Blatt heraus und die Farbe war noch frisch vom Druck. Wochenlang fragte ich jeden, ob er denn meine Geschichte gelesen hätte, aber leider war keiner dabei. Einer sagte zu mir "Weißt Du nicht, dass nur Frauen Kurzgeschichten lesen?" Danach fragte ich alle Frauen und wieder keine Leser. Niemand hatte sie gelesen, außer mir. Ich habe sie mir mehrere Male, tagelang angesehen. Und dann bin ich hin und habe alles wieder von vorne angefangen. Wie gesagt, ich bin ein sturer Deutscher.

Ich hatte viel Glück in meinem Leben und in Amerika. Mein Leben ist perfekt.

Aber manchmal, nur manchmal, vielleicht im Auto, wenn ich glücklich und sorglos im VW-Käfer die Strasse entlang fahre und Musik am iPod höre, überkommt mich ganz plötzlich ein unbeschreibliches Heimweh. Es ist, als ob zehntausend Tonnen von oben auf mich herunter drückten, und ich fühle mich so allein und einsam. Als Emigrant ließ ich so vieles zurück, dass ich lieb hatte. Ich verpasste alles, was zuhause geschah. Das Leben dort ging ohne mich weiter. Meine Oma wurde alleine alt. Daran zu denken macht mir ewig Schuldgefühle. Meine Geschwister sind ohne ihren Bruder aufgewachsen. Meine Nichten und Neffen kennen mich nur als Nebenfigur, der Weltreisende Onkel aus Amerika, der manchmal auftaucht und wieder verschwindet. Ich fühle mich dann auch heute noch, nach vierzig Jahren in Amerika, wie ein Fremder in der Fremde, und es wird mir klar, "Ich bin ganz weit weg von Daheim".

Wenn Sie mich kontaktieren möchten, so schreiben Sie bitte eine E-Mail an matheisf@aol.com


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