Galois’ Welt

Von Peter Kirsten · 23.01.2008
Die Mathematik in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses an den Wissenschaftsjahren zu stellen, ist eine besonders reizvolle Aufgabe, denn oft wird noch immer seine Unnahbarkeit zitiert. Aber hinter der "schwierigen Mathematik" steht ein faszinierendes Reich des Denkens mit brillanten Anwendungen und mit berührenden Lebensschicksalen jener, die dieses Reich mit aufbauten: so wie die des Evariste Galois.
Man fand Evariste Galois am Morgen des 30. Mai 1832 in der Nähe eines Teiches; ein Schuss in den Unterleib hatte ihn schwer verwundet. Einen Tag später starb der geniale Mathematiker in einem Pariser Hospital an den Verletzungen, die ihm durch ein Duell zugefügt worden waren. Evariste Galois wurde nur 20 Jahre alt.

Heute tragen Begriffe und Theorien in der Mathematik seinen Namen und er wird als eine Ausnahmeerscheinung seines Faches betrachtet. Galois’ Welt war die Produktion von Wahrheit. Leidenschaft, die man auch "die Mutter der großen Dinge" nennt, verschwindet regelmäßig hinter dem Werk, wenn es geschaffen ist. Dennoch ist diese Ingredienz des Suchens immer da.

"Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles ..."

Mit diesem Ruf oder sagen wir mit dieser Preisung eines heroischen Gefühls beginnt Homers Ilias – und damit alle Dichtung.

Und so klingt der Gesang des Zorns, aufgezeichnet am 25. Mai 1832 von dem 20-jährigen Evariste Galois.

" … venez demander aux hommes qui sentent d´avoir pitié de ce qui est ! Pitié, jamais ! haine, voilà tout. Qui ne la ressent pas profondément, cette haine du présent, n`a pas vraiment l`amour de l`avenir."

"... versuchen Sie einmal empfindsame Menschen um Mitleid für das, was ist, zu bitten! Mitleid, niemals! Hass, das ist alles. Wer ihn nicht tief verspürt, diesen Hass auf die Gegenwart hat keine Liebe für die Zukunft. ..."

Der "Zorn" ist heute dabei, sich als politisch-psychologischer Schlüsselbegriff einzuführen. Das Nachspüren seiner Reflexe erlaubt betörende Einsichten in die Bewegungsverhältnisse von Gesellschaften und empfiehlt uns von den ursprünglichen Zornanlässen wie der Verweigerung der Anerkennung …

- und fügen wir hinzu der Liebe –

einen Weg bis in die Gegenwart zu verfolgen.

"Ich empöre mich, also sind wir."

Heißt das von Albert Camus ausgemachte gemeinschaftsstiftende Pathos in den französischen Revolten des 19 Jahrhunderts.

Der Zorn weiß kein Ziel, keine Utopie, keine Hoffnung, nicht einmal Träume?

Heinrich Heine lebt wenige Monate in Paris, als Galois seine Empörung herausschreit und er notiert zuverlässig für den deutschen Leser, worüber die Franzosen in dieser Zeit streiten. Zwei Jahre sind seit der Julirevolution von 1830 ins Land gegangen, die Louis Philipp als neuen König hervorgebracht hatte. Seine Anhänger preisen die Ruhe und den Frieden, in denen sie die bürgerlichen Rechte gebührend verwahrt sehen. Dagegen erwidern die Republikaner:

"Das stille Glück des Friedens sei gewiss ein schönes Gut, es habe jedoch keinen Wert ohne die Freiheit."

Und sie erinnern an ihre Väter, die einmal die Bastille stürmten. Oder, die Alten unter ihnen, an ihre eigene Jugend, der sie verpflichtet sind, so wie es Friedrich Schiller wunderbar dichtete als er Don Karlos die Nachricht des gescheiterten Marquis Posa zu kommen ließ.

"Sagen Sie
Ihm, dass er für die Träume seiner Jugend
Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird."

Doch die Intrigen der realen Geschichte gehen andere Wege. Der Tod eines alten Republikaners, einer Ikone der Großen Revolution von 1789, und sein Begräbnis Anfang Juni 1832 führt zu einem Aufstand der Jugend in Paris. Damit beginnt ein aussichtsloser Kampf gegen die Truppen des Königs.

"Es war die blühend begeisterte Jugend, die ihr Blut hingab für die heiligsten Gefühle, für den großmütigsten Traum ihrer Seele ..."

Schreibt Heine. In diesen Tagen endet auch das Leben Evariste Galois'.

Ein Leben? Ein Augenblick endet.

Wir dürfen uns ihn nicht sehr groß vorstellen. Wirres Haar, ein etwas spitzes Gesicht, seine Wangen gehen in ein schmales Kinn über. Mandelförmige Augen. Niemals schlenderte er gemächlich durch die Straßen des Quartier Latin, dem Studentenbezirk von Paris, dort wo auch die Schüler der Ecole Normale, die Normaliens zu Hause sind.

Duelle, von denen zu reden ist, fanden immer am frühen Morgen statt. Warum das so war, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Der Tag, der der durchwachten Nacht folgte, muss den Kontrahenten als Verheißung erschienen sein. Wer ihn in seiner ganzen Länge sehen konnte, lebte weiter.

Fragen wir ganz einfach: Warum ließ sich jemand auf solche Ehrenhändel ein? Um zu sterben? Um zu töten?

Evariste Galois ist nicht der erste und nicht der letzte, der sich im Morgengrauen auf einer Lichtung irgendwo in einem abgelegenen Stück Wald, vielleicht noch in der Nähe eines Teiches, zu einem Duell einfindet. Er könnte aber einer der jüngsten sein. Vor ihm und nach ihm vertraute Namen des 19. Jahrhunderts. Puschkin und Lassalle lassen so ihr Leben. Und auch Heinrich Heine, der in der fraglichen Zeit in Paris,

... während Galois hastig sein mathematisches Testament zu Papier bringen muss,

... an seinen "Französischen Zuständen" schreibt; auch ihm droht das tödliche Ritual der Männer-Ehre. Aber er löst das Problem elegant auf seine Weise.

Das alte Privileg der Adligen, seine Ehre in einem Duell zu wahren, ohne nachher zur Rechenschaft gezogen zu werden, wurde erst durch Napoleon dem Bürger eingeräumt. So gesehen, stehen wir einem Wert der Französischen Revolution und ihrer republikanischen Gesinnung gegenüber. Der Bürger hat nicht weniger Ehre als der Adlige. Sich dem Duell zu stellen, wurde so auch Bürgertugend.

Wir wissen: Evariste Galois ist nicht der Herausforderer. Und wir kennen zwei Namen: Stephanie, Galois’ Geliebte – und der Perschin d’Herbinville, der Beleidigte.
Ihm eilt der Ruf voraus, ein sehr guter Schütze zu sein.

Trotz seiner erst 20 Jahre findet Galois sich wie selbstverständlich am vereinbarten Treffpunkt ein.

Die Begrüßung an diesem frühen Morgen des 30. Mai 1832 wird denkbar förmlich sein. Die Sekundanten erinnern noch einmal an die Regeln der Zeremonie Die Waffen werden ausgehändigt: Pistolen. Die Kontrahenten stehen sich gegenüber und laufen aufeinander zu ...

Eins, zwei, drei, vier - und dann ist Dunkelheit.

In der Nacht vor diesem Duell schreibt Galois in einem Abschiedsbrief an den Freund Auguste Chevalier in aller Kürze seine wichtigsten mathematischen Theorien nieder.

"Mon cher ami !
J`ai fait en analyse plusieurs choses nouvelles. Les une concernent la theorie des Équations, les autres les fonctions Intégrales.
Dans la théorie des équations, j´ai recherché dans quels cas les équations étaient résolubles par des radicaux: ce qui m´a donné occasion d`approfondir cette théorie, et décrire toutes les transformations possibles sur une équation lors même qu`elle n`est pas solubl par radicaux..."

"Mein lieber Freund!
Ich habe in der Feinuntersuchung ein paar neue Dinge gemacht. Einige betreffen die Gleichungstheorie, andere die Integralfunktionen.
Bei der Theorie der Gleichungen habe ich erforscht, in welchen Fällen Gleichungen durch Wurzeln lösbar sind: Das hat mir die Gelegenheit gegeben, diese Theorie zu vertiefen und alle möglichen Transformationen einer Gleichung zu beschreiben, selbst wenn sie nicht durch Wurzeln zu lösen ist."

Eins, zwei, drei, vier – damit beginnt alles Zählen bei den Kindern. Sie mögen es mit Bauklötzen Kugeln oder anderen vertrauten Gegenständen lernen, aber es bleibt immer die gleiche Übung, hinter den Mengen erfassen sie einen Begriff der Zahl. So oder ähnlich wird auch Evariste Galois das Mathematische kennen gelernt haben und so begann auch die Mathematik bei jenem alten Griechen aus Samos, der Pythagoras hieß, und mit einem Kind an den Strand von Samos gegangen sein könnte, um dort einen Ort mit feinem Sand zu suchen. Er wirft Steine in den Sand und fordert das Kind auf, sie zu einem Dreieck zu ordnen. Es sei ganz einfach, die Zahlen wären Anleitung genug und natürlich begänne alles Zählen immer mit der eins. So also setzt das Kind mit dem ersten Stein die Spitze des Dreiecks, ihr folgt darunter die zweite Reihe mit zwei Steinen und die dritte mit drei und die vierte mit vier. Vier Reihen formen sich zu einem Dreieck mit zehn Steinen. Ein Lehrgespräch ist überliefert, das einzige wohl des Griechen.

"Nach allem ist es an dir zu zählen.
Zählen kann ich doch schon.
Was zählst du denn?
Eins, zwei, drei, vier ...
Siehst du? Was du meinst sei vier, ist dasselbe wie zehn, ein vollkommenes Dreieck und zugleich unser Schwur."

Alles ist Zahl! Mit diesem Imperativ der Pythagoreer begann das antike philosophische Denken. Mit etwas Wehmut wird bis heute hin und wieder an diese ursprüngliche Unteilbarkeit von Mathematik und Philosophie und Kunst erinnert.
Über das Bild entsteht ein Begreifen des Addierens, doch sind wir dabei angewiesen auf die Unterweisung durch Lehrer und Eltern. Die Bemühungen des Pythagoras um das Kind müssen Galois als Idyll erschienen sein, denn über seine Lehrer lässt sich nichts Gutes berichten. Nur seine Eltern förderten ihn in diesen schwierigen Zeiten nach Kräften. Es waren die Jahre, in denen sich der Wechsel von Napoleons Ära zur tiefen Restauration vollzog. Sein Vater war Bürgermeister von Bourg - la - Reine, einer Ortschaft unweit von Paris, wo Galois 1811 geboren wurde. Irgendwann, um seinen zehnten Geburtstag, entdeckte er die Mathematik, das heißt, er entdeckte eine Welt, die er nicht nur auf Anhieb verstand, sondern in der er auch Neues denken wird.

Anfang des 19. Jahrhunderts wird ein Problem wieder aktuell, das die Mathematiker bereits seit Jahrhunderten beschäftigt. Es geht um die Lösung algebraischer Gleichungen, deren einfachster Fall zum gewöhnlichen Schulstoff gehört. Die Formel, die die Lösungen einer quadratischen Gleichung x-quadrat plus ax plus b gleich null angibt, hält sich wegen ihres eingängigen Rhythmus leicht im Gedächtnis Die zwei Lösungen

x – eins/zwei
ergeben sich durch
minus a-halbe plus oder minus Wurzel aus a-quadrat viertel minus b.

Für Gleichungen, die mit der Unbekannten x-quadrat oder was das Gleiche ist x hoch 2 beginnen, gab es also diese Formel, und man hatte auch schon entdeckt, dass es für Gleichungen mit den Exponenten x hoch 3 und x hoch 4 solche Formeln gibt.
Aber die Mathematiker wollen Gewissheit und sie wollen das Allgemeine verstehen. Wie steht es mit einem beliebigen Exponenten?

Eins, zwei, drei, vier – hinter diesem suchenden Zählen verbirgt sich das Universum der höheren Algebra mit seinen Rätseln und Herausforderungen. Wer in diese Welt eindringt und sie versteht, empfindet Genugtuung. Wer in ihr zum Unbekannten vordringt, der leidet, geplagt von Zweifeln und Resignation, und wartet am Ende sehnlich auf die Lösung und die Anerkennung der Lösung durch die Autoritäten.

Evariste Galois wird sie zu Lebzeiten nicht erfahren.

Er entwirft eine Theorie, die beschreibt, warum die vier eine Grenze bildet, warum es keine allgemeine Lösungsformel für algebraische Gleichungen geben kann und warum in bestimmten Fällen doch eine Lösungsformel existiert.

Die Galoische Theorie.

Und so endet der Brief, den er in seiner letzten Nacht vor dem Duell an seinen Freund schreibt:
"Je me suis souvent hasardé dans ma vie à avaneer des propositions dont je n`etais pas sùr. Mais tout ce que j`ai ecrit là est depuis bientòt un an dans ma tête, et il est trop de mon intérêt de ne pas me tromper pour qu`on me soupconne d`avoir énoncé des théorèmes dont je n´aurais pas la démonstration complète.
Je t`embrasse avec effusion.
E. Galois
Le 29.Mai 1832"

"Ich war in meinem Leben oft genug so kühn, Thesen vorzutragen, derer ich nicht ganz sicher war. Aber alles, was ich da geschrieben habe, ist seit fast einem Jahr in meinem Kopf. Und es ist mir zu wichtig, mich nicht zu irren und dass man mich nicht verdächtigt, Theoreme zu formulieren, deren vollständige Darlegung mir entgeht.
Ich umarme Dich aus vollem Herzen.
E. Galois
Der 29. Mai 1832"

Galois treibt die Angst, all seine Arbeit, seine Mühen und Entbehrungen könnten umsonst sein. Vergessen oder von anderen als eigene Entdeckung veröffentlicht werden. Galois’ Erfahrungen erlauben ihm kaum, besonders zuversichtlich zu sein. Mehr als einmal wurden seine Abhandlungen, die er bei der Akademie der Wissenschaften in Paris eingereicht hatte, mit dem Hinweis abgelehnt, deutlicher zu werden. Einmal sind die Papiere sogar einfach verschwunden. Galois’ Ideen sind so neu, dass die Skepsis ihnen gegenüber fast schon wieder verständlich ist. Er operierte mit Objekten und Strukturen, die es so in der Mathematik noch nicht gibt.

Sagen wir es so: Evariste Galois hat die uralten Regeln und Verknüpfungen, die beim Umgang mit Zahlen gelten, auf eine höhere Ebene gehoben.

All das schwingt in diesem transzendenten Hoffen, das so wenig Gewissheit verspricht. Trotzdem zwingt er sich zu diesem Duell, mit dem das eigene Nichts wahrscheinlich wird. In dieser unbegreifbaren Leere, die man auch Ewigkeit nennen kann, bleibt etwas, das die Mathematik vor allem anderen auszeichnet: ihre Sätze sind Produkte reinen Denkens und einmal bewiesen, gelten sie bis ans Ende der Zeit.

" Je meurs victime d´une infàme coquette… C`est dans un misérable cancan que s`eteint ma vie."

"Ich sterbe als Opfer eines abscheulichen Flittchens. Mein Leben endet in erbärmlichem Tratsch."
Solche Sätze werden niedergeschrieben aus großer Enttäuschung. Doch es hat andere Zeiten gegeben.

"Comment se consoler d`avoir èpuisé en un mois la plus belle source de bonheur qui soit dans l´homme, de l`avoir épuisé sans bonheur, ..."

"Wie soll man sich trösten, wenn man innerhalb eines Monats, die schönste Quelle seines Glücks ausgeschöpft hat – und zwar ohne Glück geschöpft zu haben."

Schreibt er an seinen Freund Auguste. Stephanie, wie gesagt, ist ihr Name. Er lernt sie im Hopital Faultrier kennen, wohin er wegen der grassierenden Cholera-Epidemie im Frühjahr 1832 aus dem Gefängnis verlegt worden war. Später haben sie sich vielleicht im Jardin du Luxembourg getroffen, wo sich viele junge Paare treffen. Bei ihren Gesprächen fühlt er sich zum ersten Mal seit langem wieder gut. Er erzählt ihr, dass er keine Ruhe mehr findet, seit sein Vater Hand an sich gelegt hat. Der frömmelnde Kleingeist, der Geist der Restauration, der durch die Ämter und Institutionen weht, hatte seinen Vater erstickt. Jetzt erfährt auch Evariste ihn. Seitdem er sich seinen republikanischen Freunden angeschlossen hat, spürt er die Reaktion. Man wirft ihn von der Ecole Normale, die ihm ein bürgerliches Leben hätte öffnen können. Er lässt sich zu einer offenen Drohung gegen den König hinreißen und muss vor Gericht. Weil er an einer Demonstration teilnimmt kommt er ins Gefängnis. Mit Mathematikunterricht muss er sich Geld verdienen.
Er wird Stephanie erzählt haben, dass da etwas ist, das er nicht fassen kann. Eine unendliche Welt der Gedanken, in die er eintauchen möchte während die Enge der Realität ihm den Atem raubt.

"J`aime à douter de ta cruelle prophétic quand tu me dis que je ne travaillerai plus. Mais j`avoue qu`elle n`est pas sans vraisemblance..."

"Ich zweifle gern an Deiner grausamen Prophezeiung, wenn Du mir sagst, dass ich nicht mehr arbeiten werde. Aber ich gestehe, dass sie nicht unwahrscheinlich ist."
Stephanie wird ihn getröstet haben – auch wenn sie nichts von seinem Genie ahnte, von dem sie gerüchteweise gehört haben mag. Sie empfindet Zuneigung für Evariste. Doch für sie, die nicht frei ist, zählt allein der Augenblick, der zu nichts verpflichtet. Galois versteht nichts von den Abgründen der Liebe – und verliert sich prompt in ihnen. So könnte es gewesen sein. Wir wissen es nicht genau.
"Ceux qui m`aiment sont, comme tu le sais, bien rares..."

"Jene, die mich lieben, sind, wie du weißt sehr rar ..."

Man findet Galois am Morgen des 30. Mai 1832 allein und schwer verwundet mit einem Schuss in den Unterleib. Einen Tag später stirbt er in den Armen seines Bruders.

Es vergehen elf Jahre, dann wird sich 1843 der Mathematiker Joseph Liouville der hinterlassenen Aufzeichnungen von Evariste Galois annehmen. Er wird die unzulängliche Darstellung bemängeln. Aber man beginnt endlich, seine Theorien zur Kenntnis zu nehmen.
Fast auf den Tag genau 40 Jahre nach Galois’ Tod schreibt ein anderer Zornschüler und noch jünger als Galois im Nachhall der Pariser Commune ein Gedicht über die Ewigkeit. Arthur Rimbaud ist 18 Jahre alt:

"Elle est retrouvée.
Ouoi ? – L`Éternité.
C`est la mer allée
Avec le soleil.

Ame sentinell,
Murmurons l`aveu
De la nuit si nulle
Et du jour en feu.

Des humains suffrages,
Des communes élans
Là tu te dégages
Et voles selon."

"Sie ist wieder da.
Wer? - Die Ewigkeit.
Wenn das Meer dahin ist
samt der Sonne.

Wachsame Seele,
bekenne dich leise
zur nichtigen Nacht,
zum verbrennenden Tag.

Dem Menschenbeifall,
dem Treiben der Menge
entziehst du dich so
fliegst auf und davon …"

Mathematiker interessieren sich selten für die Umstände, unter denen ihre Beweise oder Theorien entstehen. Sie begeistern sich für Ergebnisse. Die Geschichtslosigkeit, das Unpersönliche ist der Garant der Ewigkeit. Und so gibt es zwei Weisen der Rezeption: Bei der einen geht es um die konkreten biographischen oder historischen Umstände, bei der anderen zählt nur der wissenschaftliche Inhalt. Mathematikhistoriker kümmern sich selten um die psychosoziale Befindlichkeit einer Person, und nehmen damit in Kauf, dass die Leidenschaft aus dem Werk, das sie geschaffen hat, verschwindet.

1931 erscheint in Frankreich eine Schrift, die der Autor selbst als Pamphlet bezeichnet. Wieder ein Gesang des Zorns, der so anhebt:

"Ich war 20. Niemand soll glauben, dass sei die schönste Zeit des Lebens."

So beginnt Paul Nizan seinen Essay "Aden Arabie". Nizan, ein Schulfreund Jean Paul Sartres, war in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wie einst Galois Student der Eliteschule Ecole Normale superieure in Paris. In seinen Romanen hat er unerbittlich mit der bürgerlichen Gesellschaft abgerechnet.
In seinem ersten Essay beruft er sich auf Evariste Galois.

"Diesen Halbwüchsigen, die durch ihre Schuljahre zermürbt, durch das humanistische Gymnasium und die bürgerliche Küche und Moral ihrer Familien verdorben sind, stellt man das Beispiel illustrer Vorbilder vor Augen: Pasteur, Taine, Lemaître, Giraudoux, Francois-Poncet. Man verspricht ihnen das Kreuz der Ehrenlegion, wenn sie an der Reihe sind, und die Mitgliedschaft der Akademie für das Ende ihrer Tage.
Niemand erzählt ihnen das Leben von Evariste Galois."

Galoistheorie - Galois – Gruppe
Galois -Gruppe - Galois - Körper
Galois – Körper - Galoiserweiterung
Galois - Erweiterung - Galoistheorie

So klingen die Fachbegriffe, mit denen Mathematiker heute selbstverständlich operieren. Sie schwirren losgelöst von ihrem Urheber durch die Köpfe als Strukturen, als mathematische Befunde, mit denen wieder Probleme gelöst oder neue formuliert werden. In dieser unendlichen Folge entsteht eine Produktion von Wahrheit, die nicht ihresgleichen hat. Und wir dürfen hinzufügen auch von Schönheit, wenn wir dafür als Maß die Klarheit der Gedanken anführen.

Noch einmal spielt ein Kind am Strand. Mit einem kleinen Spaten in der Hand baut es eine Sandburg. Das Meer ist still.
Aus einem Foto aus dem Jahr 1963 blickt ein schmaler aufgeweckter Junge. Er hat die Zeit, in der er den elementaren Umgang mit Zahlen, das einfache Addieren und Subtrahieren lernte, längst hinter sich und trotzdem fasziniert ihn das einfache Abzählen. Eins, zwei ... Diesmal liegt die Barriere bei zwei.

"Ich war ganz versessen auf die kniffligen Schulbuchaufgaben, ich nahm sie mit nach Hause und erfand mir neue. Aber das beste Problem von allen entdeckte ich in unserer Bücherei."

Das ist Leidenschaft. Den jungen Engländer Andrew Wiles wird dieses Problem, auf das er im Alter von zehn Jahren stieß, nicht mehr loslassen. Vor 300 Jahren hatte es der französische Mathematiker Pierre de Fermat den Mathematikern und Laien aller Schattierungen mit auf den Weg gegeben. Und noch einmal, am Ende des 20. Jahrhunderts, werden die Ideen von Evariste Galois der Wahrheitsfindung dienen.

Pierre de Fermat hatte an die Urgleichung der Mathematik, an den Satz des Pythagoras angeknüpft und gefragt, wenn es für diese Gleichung

a hoch 2 plus b hoch 2 gleich c hoch 2

beliebig viele ganze Zahlen gibt, die, in a, b und c eingesetzt, die Gleichung erfüllen, wie verhält es sich dann mit einer Gleichung, bei der der Exponent größer als zwei ist. Zum Beispiel

a hoch 3 plus b hoch 3 gleich c hoch 3.

Oder

a hoch 4 plus b hoch 4 gleich c hoch 4.

Oder überhaupt ein beliebiger Exponent.

Pierre de Fermat behauptete: Es gibt keine Lösungen, nicht eine, für Exponenten jenseits der zwei.

Eins, zwei ... Ende

Generationen werden sich mit diesem Problem beschäftigen, dessen Fragestellung fast allen Bildungsstufen und -arten zugänglich ist: Schülern und Handwerkern, Pastoren und Musikern, Lehrern und Unternehmern, Jungen und Alten. Es kursiert in Büchern und Zeitschriften als Fermatsche Vermutung, als großer Fermatscher Satz, als Fermats letzter Satz, als Fermats Theorem - oder einfach als Fermatsches Problem.

Anfang des vergangenen Jahrhunderts stiftet der Industrielle und leidenschaftliche mathematische Privatgelehrte Paul Wolfskehl in seinem Testament ein Preisgeld von 100.000 Goldmark für den, der Fermats letzen Satz beweisen kann. Treuhänder dieses Vermögens sollte die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen sein. Bei ihr treffen im Lauf der Jahre unzählige Briefe ein, die die Lösung des Rätsels vermelden.

Doch die Mathematiker sind zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei Fermats Vermutung um eines der schwierigsten Probleme ihres Faches handelt, dessen Bearbeitung – bei ungewissem Ausgang – Lebensjahre erfordern würde.

Aber Fermat zieht weiter seine Kreise. In einer kleinen Schrift aus dem Jahr 1939 geht der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einer verstörenden Idee des Vaters der deutschen Science-Fiction-Literatur, Kurd Laßwitz, nach, in der aufbauend auf der Endlichkeit des Alphabets und damit auch der Endlichkeit alles Geschriebenen und jemals Schreibbaren eine totale Bibliothek entworfen wird.

"Alles wird in ihren blinden Bänden sein. Alles: die detaillierte Geschichte der Zukunft, 'Die Ägypter' von Aischylos, die ganze Anzahl der Male, da die Wasser des Ganges den Flug eines Falken gespiegelt haben, der geheime, wahre Name Roms, die Enzyklopädie, die Novalis erstellt hätte, meine Träume und Halbträume im Morgengrauen des 14. August 1934, der Beweis für Pierre Fermats Theorem ..."

Das Problem ist in der intellektuellen Szene von Rang angekommen. Borges unterstellt, dass ein Beweis existieren muss – oder zumindest die Widerlegung des Theorems. Er weiß noch nicht, dass Kurt Gödel einen Fachartikel mit dem beunruhigenden Titel veröffentlicht hat:

"Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme."

Unentscheidbar – das wird der Begriff einer neuen Generation von Mathematikern und dringt bis in den Alltagsgebrauch hinein. Gödels "Unvollständigkeitssatz" führt zu nachhaltigen Irritationen, weil er besagt, dass in einem formalen System, in dem wir nach logischen Regeln zu Ergebnissen gelangen, die Wahrheit nicht vollständig ist. Oder anders gesagt, es gibt in diesem System Aussagen, die nicht bewiesen oder widerlegt werden können. Und welches System wäre logischer als die Mathematik selbst? Unter den Vertretern des Fachs schleicht sich langsam die Vermutung ein, Fermats letzter Satz könnte eine solche beunruhigende Aussage sein.

Das muss auch Andrew Wiles bekannt gewesen sein. Aber im Herbst 1984 entdecken Mathematiker einen Zusammenhang, der einen noch äußerst undurchsichtigen, aber doch immerhin nicht aussichtslosen Weg zum Beweis Fermats aufzeigt. Andrew Wiles beschließt diesen Weg zu gehen. Wie ganz anders sind seine Arbeitsbedingungen.

"Meine Frau kennt mich nur aus der Zeit, in der ich an Fermat arbeitete. Auf unserer Hochzeitsreise, ein paar Tage nach der Heirat, habe ich ihr davon erzählt. Sie hatte von Fermats letztem Satz gehört, doch damals hatte sie noch keine Ahnung, welche romantische Bedeutung er für Mathematiker hatte und was für ein Stachel er so viele Jahre unserem Fleisch gewesen war."

Sieben Jahre wird Andrew Wiles um eine Lösung ringen. Das Risiko, dass er dabei eingeht, ist erheblich. Ganz für sich allein wird er arbeiten, niemanden um Rat fragen und später diese selbst gewählte Isolation damit begründen, dass alles andere ihn ablenkt.

Vielleicht trieb ihn auch die Sorge, ein anderer könnte schneller sein.

Nur seine Frau weiß von dem Geheimnis, den Rückschlägen und Fortschritten in dieser Zeit. 1993 tritt Andrew Wiles mit einem inzwischen legendären Vortrag in Cambridge vor die Kollegen.
Die Fachwelt staunt erst ungläubig und dann jubelt sie, denn es scheint als sei der "Stachel" im Fleisch der Mathematik endlich entfernt. Aber es gibt noch Unstimmigkeiten und bis zur endgültigen Lösung vergehen weitere Jahre.

In der Aula der Georg-August-Universität Göttingen versammeln sich 1000 Wissenschaftler aller Fachrichtungen zu einer Feierstunde. Der große Saal des klassizistischen Baus am Wilhelmsplatz ist das prächtigste, was die Universität zu bieten hat. Vor dieser Kulisse empfängt der englische Mathematiker Andrew Wiles am 27. Juni 1997 den Paul-Wolfskehl-Preis für die Lösung des Fermatschen Problems.

"Dieses Kapitel ist dem Studium bestimmter Galois-Darstellungen gewidmet. Im ersten Abschnitt führen wir Mazur’s Deformationstheorie ein, studieren sie und diskutieren verschiedene Verfeinerungen von ihr. Diese Verfeinerungen werden später benötigt werden, um die Ähnlichkeit zwischen allgemeinen Deformationsringen und den Hecke – Ringen in Kapitel 2 genau darzustellen…"

Der erste Name, der auf den 130 gedruckten Seiten dieses Glanzstücks logischer Beweiskunst auftaucht, und es sind viele Namen, die genannt werden, ist der von Evariste Galois. Bei ihm war Wiles auf eine entscheidende Anregung gestoßen.
Eine 300 Jahre alte Frage, die die größten Mathematiker herausgefordert hatte, ist entschieden. Die bange Suche, die stets von Gödels Diktum der Unentscheidbarkeit überschattet blieb, hat sich in einen Triumph des logischen Denkens verwandelt. Die Nachricht erreicht sogar die Tageszeitungen aber kaum jemand fragt, welche Botschaft sie enthält.

Es ist reiner Zufall – und doch vielleicht nicht ganz – dass die Spur noch einmal zur Ecole Normal nach Paris führt. Der französische Philosoph Alain Badiou ist vorerst der letzte Denker, der in seinem Hauptwerk "Das Sein und das Ereignis" die Mathematik für einen großen Entwurf in Anspruch nimmt und sich an ihrem Erkenntnisideal orientiert. Badiou setzt gegen den Austausch beliebiger Standpunkte die Tiefe mathematischer Wahrheitsfindung. Nicht nur in der Wissenschaft sondern auch in der Kunst, der Politik und der Liebe.
Manche seiner Überlegungen lesen sich wie eine späte Verständigung über Galois' rastloses Suchen.

Die Strände mit dem feinen weißen Sand gibt es immer noch. Dicht am Meer sucht ein Kind, in seiner kleinen Hand sammelt es Muschelschalen, Bernsteine und vielleicht noch anderes. Bald wird nichts mehr dazu passen ...

Ein, zwei, drei, vier ...

... und dann wird es abzählen, wie viel es von diesen und jenen Dingen gefunden hat. Es weiß noch nicht, dass diese naive Prozedur des Denkens Generationen begleitete und zur Gewissheit wurde so wie neue Wahrheiten gewiss werden, an denen es später einmal teilhaben und vielleicht seine Träume binden wird.

Nennen wir sie Politik und Liebe.

Was würde er uns fragen, dieser 20-jährige Evariste Galois?

Habt ihr von mir gehört?
Hat euch meine Theorie etwas genützt?
Habe ich die Wahrheit gesagt?

Sagen sie ihm, dass wir für die Träume seiner Jugend Achtung tragen.

"Adieu! Ich habe wohl gelebt für das öffentliche Wohl.
Vergebt jenen, die mich getötet haben, sie sind guten Glaubens."


Literatur:

Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis / diaphanes 2005
Jorge Luis Borges: Eine neue Widerlegung der Zeit / Eichborn Verlag 2003
Robert Bourgne et J.-P. Azra: ÉCRITS ET MÉMOIRES MATHÉMATIQUES D`ÉVARISTE GALOIS / Gauthier – Villars, Paris 1962
Bernard Bychan: Das Evariste Galois Archiv / In: www.galois-group.net/g/DE/
Jean Dieudonné: Geschichte der Mathematik 1700 –1900 / Deutscher Verlag der Wissenschaften 1985
Heinrich Heine: Werke und Briefe, Band 4 / Aufbau Verlag 1972
Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I / Wilhelm Fink Verlag 2006
Arthur Rimbaud: Sämtliche Werke / Insel Verlag Leipzig 1976
Simon Singh: Fermats letzter Satz / Deutscher Taschenbuch Verlag 2000
Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit / Suhrkamp Verlag 2006
Ulrich Friedrich Müller, Marlies Müller-Beck, Martina Passelaigue: Poèms francais / Deutscher Taschenbuchverlag 1999