Gabriela Adameşteanu: "Das Provisorium der Liebe"

Diese gnadenlose Welt der Lüge

06:47 Minuten
Zu sehen ist das Cover des Buches "Das Provisorium der Liebe" von Gabriela Adameşteanu.
Die historische Tour d’Horizon spielt sich fast durchgängig in der schäbigen Wohnung ab, in der sich Letitia und Sorin begehren und fremd bleiben. © Deutschlandradio / Aufbau Verlag
Von Jörg Plath · 11.06.2021
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Letitia und Sorin begehren sich und bleiben sich dennoch fremd. In "Das Provisorium der Liebe" erzählt Gabriela Adameşteanu mit großer Eleganz vom allgegenwärtigen Geheimnis und Verdacht in 70 Jahren rumänischer Geschichte.
Die Liebe von Letitia und Sorin ist auch nach Jahren noch stürmisch. Denn die Kollegen sehen sich nur einmal in der Woche für einige Stunden in der Bukarester Wohnung eines Freundes. Am Arbeitsplatz, wo beide an einem gigantischen Traktat für den Großen Genossen arbeiten, bleibt es bei heimlichen Blicken. Letitia ist verheiratet, beide wollen Karriere machen. In "Das Provisorium der Liebe" erzählt Gabriela Adameşteanu mit großer Eleganz vom allgegenwärtigen Geheimnis und Verdacht in 70 Jahren rumänischer Geschichte.
Sorin und Letitia gehören der "glücklichen Generation" an: Sie wurden im Zweiten Weltkrieg geboren und konnten daher nicht wie ihre Eltern mit den faschistischen Legionären und Hitlers Verbündetem Ion Antonescu paktieren. Doch die Securitate pflegt Sippenhaft: Die Mitgift der Älteren für die "glückliche Generation" ist eine "schlechte Akte". Daher wagt niemand, über die Vergangenheit zu sprechen.

Der Verdacht ist unausrottbar

Nicht einmal die Kinder wissen, warum ihre Eltern wie Letitias Onkel ermordet werden, spurlos verschwinden wie Sorins Vater oder nach Jahren als Wrack zurückkehren wie Letitias Vater. "Schlechte Akten" lassen sich zwar frisieren, aber mancher Securitate-Offizier hält die Hand auf und das kompromittierende Material für eigene Zwecke zurück. Der Verdacht ist unausrottbar.
Diese gnadenlose Welt der Lüge schildert Adameşteanu in fünf Romanteilen. Nur in "Familienakten" blendet sie zurück zu den "Rumänisierungen" jüdischen Eigentums, den Morden und Deportationen unter Antonescu, in die Sorins und Letitias Familien verstrickt sind.

Unvermittelt einsetzende Szenen

Die übrigen Teile schildern die Aufbruchstimmung unter Nicolae Ceauşescu Mitte der 1960er-Jahre und die darauf folgende Repression. Die düsteren Zukunftsaussichten unter den Parteikadern treiben Sorin und Letitia auseinander: Er fürchtet ihre literarischen Versuche als Sicherheitsrisiko, sie entsetzt seine Fortsetzung des Liebesprovisoriums mit einer anderen Frau und das eigene Verhalten.
Die historische Tour d’Horizon, erzählt in unvermittelt einsetzenden und nach einer, eineinhalb Seiten wieder abbrechenden Szenen, spielt sich fast durchgängig in der schäbigen Wohnung ab, in der sich Letitia und Sorin begehren und fremd bleiben. Letitia begegneten die Leser schon in Adameşteanus Debüt "Der gleiche Weg an jedem Tag" aus dem Jahr 1975.

Alle wissen um die Korruption

Die Autorin, geboren 1942 und promoviert über Marcel Proust, war damals Lektorin und Übersetzerin. 1983 folgte der Roman "Verlorener Morgen", für dessen Übertragung Eva Ruth Wemme 2019 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Nach dem Sturz Ceauşescus gab Adameşteanu, in deren Büchern erstaunlich viel von politischen Gefangenen, Enteignungen und Fluchten in den Westen die Rede ist, die Zeitschrift "22" der Bürgerrechtler heraus.
"Das Provisorium der Liebe" ist durch eine forcierte Körperlichkeit geprägt: Fleisch platzt unter Schlägen auf, es verformt und verfärbt sich im Liebesakt. Es ist die Kehrseite des Geheimnisses, sichtbar, greifbar und politisch. Karriere macht nur, wer seinen Körper einem anderen, meist einem Mann, zur Verfügung stellt. Alle wissen von dieser Korruption, jeder spricht darüber, jeder giert nach seiner Chance im Provisorium des Lebens.

Gabriela Adameşteanu: "Das Provisorium der Liebe". Roman
Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme
Aufbau Verlag, Berlin 2021
480 Seiten, 26,80 Euro

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