Fußball als Weltreligion des 21. Jahrhunderts

Rezensiert von Annegret Kunkel · 07.06.2006
Religion und Politik - aus diesem Stoff sind die Emotionen gemacht, die in den Fußballstadien überkochen. Das zumindest behauptet der Publizist und bekennende Fußballfan Jürg Altwegg in seinem Buch: "Ein Tor, in Gottes Namen! Über Fußball, Politik und Religion".
Am schlimmsten ist es in der Regionalbahn. Noch zwei Stunden bis Berlin, und der Boden ist mit Bierdosen übersäht, die Sitze kleben. Alle paar Minuten stimmt einer der Fußballfans irgendein Schlachtlied an, und alle grölen mit. Der Schaffner traut sich schon lange nicht mehr durch. Die Fans haben sich mit Wimpeln, Schals und Mützen aus dem Fanshop ausstaffiert und die Gesichter entsprechend bemalt. Einer wankt dauernd den Gang auf und ab. Auf seinen Schultern sitzen Maskottchen des Lieblingsvereins wie Vögel auf der Stange. Und er sagt immer dasselbe: "Jeder, der gegen Hertha ist, kriegt auf die Fresse." Dabei taxiert er die Fahrgäste mit rotgeäderten Augen.

"Der historische Fortschritt manifestiert sich in Form einer klassischen Regression: Die leicht infantilen Fans bemalen sich in den Farben ihrer Nation – und machen niemandem Angst."

Stimmt - aber nur, solange man bedenkt, dass zum Beispiel die Azteken ihre Ballspiele mit Menschenopfern beendeten. Fußball sei ein den Göttern geweihtes Opferspiel, schreibt Jürg Altwegg in seinem Buch "Ein Tor, in Gottes Namen!" Dass man heutzutage einen Ball benutzt statt den Schädel des Feindes, ist insofern eine zivilisatorische Errungenschaft.

Der religiöse Ursprung des Fußballs aber, so die These des Buches, ist bis heute unverkennbar, ja prägend. Gab es nicht, fragt Altwegg augenzwinkernd, auch zwölf Apostel, so wie die Fußballmannschaft elf Spieler und einen Schiedsrichter hat? Erinnert nicht das (inzwischen abgeschaffte) Ritual, nach dem Sieg aus dem Pokal zu trinken, an das Abendmahl? Und ist nicht die FIFA eine Art Mischung aus Vereinten Nationen und Vatikan? Ganz zu schweigen von Heiligenverehrung im Fußball. Pelés Schuhe werden als Reliquien konserviert. Die Neapolitaner ersetzten bei einer Prozession die Madonna durch Maradona. Und als die Türken 2002 ins Halbfinale kamen, ließen sie einen Imam einfliegen und fast nur gläubige Muslims aufs Feld.

"Das Stadion ist wie der Tempel der Mittelpunkt der Welt. Es ist nach außen geschlossen und nach oben, gegen den Himmel, geöffnet. Die erhabensten Augenblicke erleben die Kathedralen der Moderne, wenn sie vom Flutlicht – für alle Außenstehenden sichtbar – der irdischen Umwelt entrückt werden."

Mit der Hälfte des Vorschusses, den Altwegg für sein Fußballbuch erhielt, ersteigerte er bei Ebay vier Karten für das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2006. Vielleicht versteht das nicht jeder. Priesterseminare und Fußballmannschaften, schreibt Altwegg, sind Männergesellschaften, in denen Frauen Störfaktoren sind. Frauen werden in Deutschland vorwiegend am Mittwoch verprügelt, wenn die wichtigsten internationalen Begegnungen stattfinden, und in Italien vor allem am Sonntag.

"Die Frauen mussten zumindest bis ans Ende des letzten Jahrhunderts das Gefühl haben, die permanenten Verliererinnen des Fußballs zu sein – als wäre er nur erfunden worden, um ihr ganzes Geschlecht auf immer und ewig den Preis für Evas Sünde bezahlen zu lassen."

Vielleicht aber auch nur ein Phänomen der Klassengesellschaft. Die wird nämlich in der Fußballwelt in archaischer Reinform reproduziert. Das Proletariat, das grölend in der Regionalbahn fährt, die Intellektuellen, die alles legitimieren, die überfütterten FIFA-Chefs, die daraus Kapital schlagen, und natürlich die, wie Lenin sagen würde, nützlichen Idioten, die schließlich alles im Fernsehen kommentieren. Altweggs Buch liest sich wie eine bildungsfiebrige Live-Reportage, auch wenn es für Nicht-Fans gelegentlich etwas unübersichtlich wird. Trotzdem ist es nicht ohne Charme, wenn immer mal wieder der Ball mit Altwegg durchgeht.

"In den sublimsten Augenblicken des göttlichen Spiels finden Moral, zumindest Charakter und Ästhetik zueinander, werden eins – und äußern sich in ebenso eleganter wie unwiderstehlicher Effizienz."

Fußball als Weltreligion des 21. Jahrhunderts. Kurz vor Torschluss wird klar, dass Altwegg seinen Versuch, den Fußball mit Hilfe der Religion zu legitimieren, nicht konsequent genug betreibt. Ist der Fußball nun mehr banal oder göttlich, mehr real oder mehr ideal? Altwegg sollte die Abschaffung des realen und die Etablierung des idealen Fußballs vollenden – auf dass der endgültig in die Transzendenz entschwinde - oder, noch besser, ins Nichts.

Jürg Altwegg: Ein Tor, in Gottes Namen! Über Fußball, Politik und Religion.
Hanser Verlag
256 Seiten, 17,90 Euro