Fußball als Identitätsstifter für die Nation

07.06.2010
Für Deutschland gab es 1954 das "Wunder von Bern". Dass es sich dabei nicht allein um ein rein sportliches Ereignis handelte, gehört zum Allgemeinwissen. Die enge Verbindung von Fußball und Nation untersucht am Beispiel seiner Heimat Argentinien der Philosoph und Soziologe Pablo Alabarces in seinem Buch "Fútbol y patria" (Fußball und Vaterland). In der Originalsprache inzwischen zum vierten Mal aufgelegt, erscheint es nun auch in deutscher Übersetzung unter dem suggestiven Titel "Sterben für Messi?".
Lionel Messi, derzeit bester Fußballspieler der Welt, bekannte einst, er würde "für das argentinische Trikot sterben". Um ihn geht es allerdings nur am Ende des gut 280 Seiten umfassenden Buches. Denn vor allem erzählt Alabarces die Geschichte seiner Nation. Fußball ist für ihn "Kulturmaschine, Stütze und Argument einer nationalen Identität". Er untersucht den Sport als soziales und politisches Phänomen. Im Kern seiner Arbeit, die - man spürt es deutlich am Sprachduktus - eine weiterführende Überarbeitung seiner Dissertation ist, spürt Alabarces Veränderungen und Brüchen des argentinischen Nationalbewusstseins anhand von Fußballereignissen nach.

Er geht dabei chronologisch vor. So erläutert er zuerst den Begriff des "Gaucho" – jenes unabhängigen, landwirtschaftlichen Wanderarbeiters, der als epische Figur zum Modell der "Argentinizität" wurde. Als weiterer Volksheld tritt Anfang des 20. Jahrhunderts der Fußballer neben ihn. Die Söhne italienischer und spanischer Einwanderer entwickeln einen eigenen Stil – den "kreolischen Fußball, la nuestra, unsere Art". Unterstützt von den Medien, erst der Presse, später von Film und Fernsehen, wird der Mythos des argentinischen Fußballers geschaffen – der schließlich die nationale Identität verkörpert.
Höhepunkt des fußballerischen Nationalismus ist für den Autor die WM 1978. Eine traditionalistische Militärdiktatur regiert in Argentinien, ein Gaucho ist Maskottchen der WM, der Mythos vom "argentinischen" Spielstil kehrt zurück. Danach, so der Autor, habe sich Fußball immer weiter in Richtung Tribalisierung und Merchandising entwickelt. Im Zeitalter der Globalisierung sei der Wunsch nach Gemeinschaft verkommen zur symbolischen Konsumhandlung, Fußball selbst zum TV-Genre. Deutlich werde dadurch die Abwesenheit gemeinsamer gesellschaftlicher Projekte – deren wirkungsmächtigstes lange Zeit die Nation war. Zwar habe Maradona noch den Status eines "Nationalheiligen" erlangt – doch sein Geld im Ausland verdient. Wie heute Messi.

Pablo Alabarces' Betrachtung argentinischer National- und Fußballgeschichte ist originell, politisch engagiert, globalisierungskritisch. Sie ließe sich als Modell sicherlich auch gewinnbringend auf hiesige Verhältnisse übertragen. Lesen aber sollte man das Buch vor oder nach der WM. Es ist keine Halbzeitlektüre.

Besprochen von Carsten Hueck

Pablo Alabarces
"Für Messi sterben?"

Aus dem Spanischen von Bettina Engels und Karen Genschow.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 287 Seiten, 16 Euro