Funken sprühende Sprachzauberei

07.01.2011
Essayistin und Theaterautorin Gisela von Wysocki spürt mit "Wir machen Musik" ihrer Kindheit im Havelland und in Berlin nach. Aus zwei Perspektiven – der des unwissenden Kindes und der der Erwachsenen – erzählt sie einen hinreißend komischen und gleichzeitig bitterernsten Roman.
Das Kind hat einen Zauberer zum Vater, zumindest scheint es so. Morgens holt er das Frühstücksei aus dem Jackettärmel, des Abends bringt er aus der Stadt schwarze Scheiben mit nach Hause, die voller Musik sind. Der Vater, Produktionsleiter der Odeon-Schallplattenfirma, ist in den kindlichen Augen ein mächtiger Mann.

Denn vermutlich ist es nur seiner Überredungskunst zu verdanken, dass sich ein ganzes Orchester in die geheimnisvollen Rillen pressen ließ, aus denen eine spitze Nadel es wieder zum klingenden Leben erweckt. Oder musste er dafür sogar Gewalt anwenden? Wer mir nichts dir nichts einen Schock Musiker in einem zerbrechlichen Ding verschwinden lässt, dem ist nicht über den Weg zu trauen. Dennoch beabsichtigt die Tochter nichts so sehr, als ihm zu gefallen. Sie singt, tanzt, spielt Klavier. Bei der Plattenaufnahme im Studio aber scheitert sie kläglich.

In ihrer ersten Prosaarbeit spürt die 1940 geborene Essayistin und Theaterautorin Gisela von Wysocki ihrer eigenen Kindheit im Havelland und in Berlin nach. Ihr Vater war tatsächlich ein erfolgreicher Musikproduzent, durch dessen Hände, von den 20ern bis in die Nachkriegszeit, mehr als 50.000 Lieder, Schlager und Chansons gingen. Doch "Wir machen Musik", dessen Titel sich dem des berühmten Revue-Films von Helmut Käutner aus dem Jahr 1942 verdankt, ist weitaus mehr als eine Autobiografie.

In 64, teilweise nur winzige Erinnerungssplitter umkreisenden Kapiteln erzählt die Autorin aus zwei Perspektiven: zum Einen aus der des ängstlich-staunenden Kindes, zum Anderen aus der der wissenden Erwachsenen. Wie die beiden Stimmen ineinander geflochten werden, ist das eigentliche Kunststück dieses faszinierenden Buches. Dabei behauptet jede ihr eigenes Recht, und zugleich wird offenbar, dass die erwachsene Stimme ohne die kindliche nichts wäre, hat sie doch alles – Skepsis, Zweifel sowie die Erkenntnis stiftende Kraft des Irrweges – von ihr gelernt.

Um den irritierenden Mysterien auf den Grund zu gehen, beobachtet das Kind nämlich genau: Die Mutter etwa, die von Kinohelden schwärmt, als wolle sie gleich mit ihnen durchbrennen, während sie doch in Gummistiefeln ihren Hühnerhof zu bewirtschaften hat. Die Redeweise der Eltern, wenn sie von Freunden wie dem Sänger Richard Tauber nur in der Vergangenheitsform sprechen, weil er – warum? – nach England ausgewandert ist. Die unvermittelten Ausflüge der Familie in einen entfernten Keller, wo man schweigend neben Nachbarn halbe Nächte verbringt. Ein sonderbares Spiel, genau wie die plötzlichen Besuche russischer Soldaten, die, das Kind auf dem Schoß haltend, ergriffen dem Klavierspiel des Vaters lauschen.

Wie unter einem Vergrößerungsglas lässt Gisela von Wysocki das Kind die Dinge ordnen und sie neu zusammensetzen, damit sie einen Sinn ergeben. Das ist ein Lob auf das Missverständnis: hinreißend komisch und bitterernst zugleich. Das Kind erfährt auch, dass "Fragen niemals die richtige Antwort finden", es sei denn, man richtet sie zugleich an sich selbst. Mit dieser Entdeckung tut sich ihm ein eigener, unbekannter Kontinent auf, der von Wörtern und Begriffen. Dass sie dort selbst zur Meisterin avancierte, zur Funken sprühenden Sprachzauberin, zeigt Gisela von Wysocki mit diesem Buch aufs Schönste.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Gisela von Wysocki: Wir machen Musik - Geschichte einer Suggestion
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
258 Seiten, 22,90 Euro