Fundamentalanalyse der arabischen Kultur

28.05.2009
Der Marokkaner Mohammed Abed al-Jabri legt mit seiner "Kritik der arabischen Vernunft" ein epochales philosophisches Werk vor, das die arabische Kultur aus ihrer "Vergangenheitssüchtigkeit" herausführen will, damit sie aus und durch sich selbst ihre eigene Moderne entwickeln kann.
Mohammed Abed al-Jabri, geboren 1935, ist ein marokkanischer Philosoph, der aus einfachen Verhältnissen stammt, eine Schneiderlehre absolvierte, Volksschullehrer war, dann Philosophie in Damaskus studierte und schließlich Professor für Philosophie und islamisches Denken an der Universität Rabat wurde. Seine auf Kant anspielende "Kritik der arabischen Vernunft", deren Einführung jetzt auf Deutsch vorliegt, ist insgesamt ein Werk von vier Bänden, eine Fundamentalanalyse und -kritik arabischer Wissensproduktion und Gelehrtenkultur. Im Laufe der Zeit sollen auch die vier Hauptbände auf Deutsch erscheinen - und damit (mit Ausnahme des dritten Bandes, der auf Französisch veröffentlicht wurde) erstmals in einer anderen Sprache als Arabisch; das Werk wird aus einer von al-Jabri genehmigten und mit Kommentaren für den europäischen Leser ergänzten französischen Fassung übersetzt.

Ein Hauptpunkt von al-Jabris "Kritik" ist das Verhältnis zur Tradition ("turath"). Wie geht man damit um? Steht sie ein für allemal fest? Er macht im heutigen Islam drei Fraktionen aus, welche die Tradition unterschiedlich behandeln: die liberale Strömung, die mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben und das moderne europäische Denken übernehmen will, die marxistische Strömung, die mit vorgefassten Begriffen die Wahrheit gepachtet hat, und die fundamentalistische Strömung, welche die Vergangenheit über alles stellt und sie heilig spricht.

Al-Jabri stellt auch die beiden ersten vor - Hauptproblem ist aber die fundamentalistische Strömung (auch wenn er sich sehr diplomatisch ausdrückt, niemandes Gegner sein und niemanden provozieren möchte). Für ihn ist die Tradition "Teil der Geschichte, sie besteht aus aufeinander folgenden Momenten, die sich gegenseitig aufheben oder sich ergänzen, aus Momenten des Denkens, die eine Wirklichkeit widerspiegeln, sie ausdrücken und auf sie positiv oder negativ einwirken. Entsprechend muss die wissenschaftliche Behandlung der Tradition auf zwei Ebenen stattfinden: dem Verstehen und dem Aneignen."

Al-Jabri beruft sich vor allem auf den spanisch-arabischen Denker Avérroës (alias Ibn Ruschd) aus dem 12. Jahrhundert, dessen Rationalismus er wiederbeleben will. Er zielt auf die Versöhnung von Vernunft und Offenbarung. Avérroës sprach von einer "doppelten Wahrheit", der religiösen Wahrheit des Koran und der wissenschaftlichen Wahrheit der Vernunft. Die Zukunft "wird averroistisch sein", ist al-Jabris Prophezeiung (und Hoffnung, muss man wohl ergänzen).

Das Buch, im islamisch-arabischen Raum weit verbreitet, ist keine populär geschriebene historische Erzählung, sondern ein philosophisches Buch. Das bedeutet für die Lektüre eine gewisse Anstrengung. Dabei ist es recht didaktisch geschrieben, mit einer klaren Abfolge, die keine Gedankenstufen überspringt. Sein Hauptanliegen ist, die arabische Kultur aus ihrer "Vergangenheitssüchtigkeit" herauszuführen, damit sie aus und durch sich selbst ihre eigene Moderne entwickeln kann. Das ist nicht nur für Leser der arabischen Welt, sondern auch für europäische Leser erhellend - und nach dem Erscheinen der Einführung auf Deutsch darf man gespannt auf das Hauptwerk warten, das im Herbst auf Deutsch erscheint.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Mohammed Abed al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung
Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky und Sarah Dornhof
Perlen Verlag, Berlin 2009
231 Seiten, 19,80 Euro