Fürs Leben lernen!

Von Ulrich Woelk · 02.06.2010
Schulpflichtige Kinder zu haben, erweitert den Horizont. Mit ihnen gehen auch wir, die Eltern, noch einmal zur Schule und lernen so manches, was vor 40 Jahren noch nicht auf dem Lehrplan stand. Hätten Sie zum Beispiel gewusst, dass auf eine Millionen Moleküle in der Luft derzeit 380 CO2-Moleküle kommen? Und dass es vor 150 Jahren erst 280 CO2-Moleküle waren. Ich nicht - aber zusammen mit meiner zehnjährigen Tochter - sie geht in die vierte Klasse - habe ich es jetzt gelernt.
Und noch mehr Wissenswertes war dem Arbeitsbogen zu entnehmen, den sie vor zwei Wochen mit nach Hause gebracht hat: Die Wälder schrumpfen, die Gletscher schmelzen und die Temperaturen steigen. Ja, sogar der Schuldige an der ganzen Misere wurde auf dem Arbeitsbogen benannt: der moderne Mensch und seine Lebensweise.

Nun - so werden Sie vielleicht einwenden - so richtig neu ist das, was ich da gelernt habe, aber nicht. Denn dass wir auf eine Klimakatastrophe zusteuern gehört ja mittlerweile zur Allgemeinbildung. Und da wir - ebenfalls im Gegensatz zu früheren Schulzeiten - unsere Kinder zu kritischen und politisch engagierten Bürgern machen wollen, kann es schließlich nicht schaden, sie frühzeitig über ihre Zukunft zu informieren: Global Warming, Treibhausefekt, Versteppung hier, Überflutung da - als aufgeklärte Zeitgenossen wissen wir, was auf uns zukommt.

Aber wissen wir das wirklich? Ist die Behauptung, die moderne Lebensweise des Menschen führe zu einer Klimakatastrophe, so unbezweifelbar wahr wie die Rechnung, dass eins und eins zwei ist – ein Lehrsatz, den ich als Schulstoff bis heute ja auch nicht in Frage stelle?

Nun, man mag es kaum glauben: Aber obwohl in den Berichterstattungen und Kommentaren praktisch sämtlicher Medien – seien sie gedruckt oder elektronisch, rechts oder links, jugendlich trendy oder gesellschaftlich etabliert - keine Zweifel mehr an der Klimaerwärmung durch den Menschen geäußert werden – sie ist nach wie vor nur eine Theorie und keineswegs so gewiss wie das Einmaleins. Es gibt es seriöse Wissenschaftler bis hin zu Nobelpreisträgern, die die Eindeutigkeit des Zusammenhangs zwischen der globalen Erwärmung und der CO2-Konzentration in der Atmosphäre bezweifeln. Sie finden derzeit nur kein Gehör.

Es gibt aber einige gute Gründe, die Vorhersagen der Klimaforscher mit Vorsicht zu genießen. Vor rund vierzig Jahren nämlich war die gleiche Zunft, die uns heute eine Wärmekatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes ankündigt, davon überzeugt, dass uns eine neue Eiszeit bevorsteht. In der Ausgabe 33 von 1974 berichtet der Spiegel unter dem Titel "Katastrophe auf Raten": "Kommt eine neue Eiszeit? Nicht gleich, aber der verregnete Sommer in Nordeuropa, so befürchten die Klimaforscher, war nur ein Teil eines weltweiten Wetterumschwungs."

Ja wirklich: Die Klimaforscher der Siebziger sagten der Menschheit eine Phase der Unwetter, Missernten und Hungersnöte - ja eine regelrechte Apokalypse durch Abkühlung voraus. Mit ein paar kleinen Ersetzungen – Abkühlung durch Erwärmung, Gletscherwachstum durch Gletscherrückgang, Nässe durch Trockenheit – könnte man den Spiegel-Artikel von damals – ob Sie es glauben oder nicht – so, wie er ist, heute wieder drucken, und es würde niemandem auffallen. Und damals wie heute forderten die Klimaforscher vor dem Hintergrund all der von ihnen prognostizierten Katastrophen mehr organisatorische und finanzielle Mittel - und haben sie bekommen.

Es gibt viele überzeugende Gründe, unsere moderne Wirtschaftsweise auf Nachhaltigkeit umzustellen. Bilder wie die aus dem Golf von Mexico führen uns vor Augen, dass es bessere Wege geben muss, unsere Lebensweise zu organisieren als die des bedenkenlosen Resourcenverbrauchs. Aber kritisch zu sein heißt nun einmal, nicht alles zu glauben, was man liest und gesagt bekommt - auch nicht in der Schule.

Als ich meiner Tochter erklärte, der Klimawandel sei eine Theorie und sie solle doch bitte nicht jedes Mal beim Essen von Butter ein schlechtes Gewissen haben - Kühe produzieren nämlich das besonders effektive Treibhausgas Methan, wie sie in einer ihrer Kinder-Wissenssendungen erfahren hatte -, war sie irritiert und auch ein wenig empört über meinen Standpunkt.

Bin ich also zu spät dran? Hat meine Tochter den Glauben an eine kommende Klimakatastrophe bereits so sehr verinnerlicht, dass sie jeden Zweifel daran für unstatthaft und unmoralisch hält, für Häresie? Ich hoffe nicht. Ich hoffe immer noch, dass es mir gelingt, ihr zu vermitteln, dass es nur wenig gibt, wirklich wenig, dass so gewiss ist wie das Einmaleins. Und Klimavorhersagen gehören mit Sicherheit nicht dazu.

Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".
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Ulrich Woelk© Bettina Keller