Für einen starken Staat

17.06.2010
Der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz plädiert in seinem Buch dafür, das Gleichgewicht zwischen Staat und Markt neu auszutarieren. Er setzt auf strenge internationale Regeln für die Finanzmärkte.
Viele westliche Marktwirtschaften schlugen in den vergangenen Jahrzehnten einen falschen Weg ein, deshalb war die Weltwirtschaftskrise absehbar. Eigentlich. Doch als das ökonomische Beben über den USA hereinbrach, wurstelte sich die Regierung durch, statt beherzt Fehler zu korrigieren. Warum das so war, erklärt Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. Er zeigt aber auch Auswege aus dem Dilemma.

Es ist die Geschichte einer skrupellosen Bereicherung von Bankern und Immobilienmaklern in den USA, von nicht nachvollziehbaren Bankzusammenbrüchen und -rettungen, des Machtmissbrauchs von Politikern und von einer gigantischen Umverteilung der Vermögen von unten nach oben. Es ist auch die Geschichte einer Krise, die noch immer die Chance bietet, die gröbsten Mängel des kapitalistisch-westlichen Wirtschaftssystems zu beseitigen.

Joseph Stiglitz gehört zu den wenigen Ökonomen, die das Wirtschaftsgeschehen konsequent von unten analysieren. Dieser spezielle Ansatz hat sich über die Jahrzehnte zu einem Amalgam seiner Erkenntnisse aus der Tätigkeit als Wissenschaftler, Politikberater und Publizist entwickelt. Ihn interessieren die Funktionsweise von Märkten und die Reibungsflächen, die durch das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft entstehen. Vor allem aber beleuchtet er in seinem neuen Buch die Folgen des Handelns von Bankern und Politikern auf das Leben der Bedürftigsten in der Gesellschaft; auf Geringverdiener und Arbeitslose.

Stiglitz zeigt zum Beispiel, dass viele Bankmanager in den USA vor Ausbruch der Krise Augenmaß und wirtschaftliche Vernunft verloren. Heftig kritisiert er, dass sie zunehmend nach schnellen und vor allem hohen Gewinnen gierten, statt die langfristige Stabilität des Systems im Blick zu behalten oder ein kostengünstiges elektronisches Zahlungssystem zu entwickeln.

Geschäfte gegen Zahlung einer Gebühr waren vielversprechender als die klassische Kreditvergabe. Anders sei nicht erklärbar, warum die Banken Millionen Menschen Hypothekenkredite zur Finanzierung ihrer eigenen vier Wände häufig geradezu aufschwatzten. Diese Kredite wurden immer wieder umfinanziert, und jedes Mal war dafür eine Gebühr fällig. "Hypothekenbetrug" und "Ausbeutung" nennt Stiglitz diese Praxis.

Die Maßnahmen der Regierungen Bush und Obama zur Rettung der US-Wirtschaft hätten bei den Eigenheimbesitzern ansetzen müssen, schlussfolgert er. Stattdessen gingen rund 800 Milliarden Dollar aus der Staatskasse an strauchelnde Banken. Die Rechnung zahlten die Steuerzahler, aber Mitspracherechte, was die Banken mit diesen Milliarden machen, hatten weder sie noch die von ihnen gewählten Politiker.

Insgesamt linderten die Volksvertreter die Symptome der größten Krise seit 80 Jahren. Die strukturellen Ursachen, die zu ihr geführt haben, bekämpften sie nicht. Mit diesem grundsätzlichen Vorwurf geht er weit über das hinaus, was etablierte Ökonomen in der Regel ihren Lesern zumuten.

Wie immer schaut Stiglitz über den Tellerrand der USA hinaus. Im letzten Drittel des Buches beschäftigt er sich damit, wie schlimme Krisen vermeidbar wären und wie eine gerechtere Weltwirtschaft aussehen könnte. Zum Beispiel setzt er auf strenge internationale Regeln für die Finanzmärkte. Zudem sollten die Einkommen nicht nur innerhalb der USA gerechter verteilt werden, sondern weltweit. Insgesamt geht es Stiglitz darum, das Gleichgewicht zwischen Staat und Markt neu auszutarieren. Zugunsten eines starken Staates, der mächtige Konzerne und Banken in Zaum halten kann.

Stiglitz hat ein wichtiges Buch geschrieben. Dabei gab er sich Mühe, die Fachsprache des Ökonomen-Kauderwelsch zu vermeiden. Seine Gedanken formuliert er mitunter zwar etwas langatmig und umständlich. Doch so können ihm selbst Leser ohne ökonomische Vorbildung folgen.

Jeder Laie, der wissen möchte, wie es zu dieser großen Krise kam und wie solche Beben künftig vermieden werden können, wird dieses Buch mit Gewinn lesen. Die Lektüre verlangt ihm Durchhaltevermögen ab. Doch danach wird er in Wirtschaftsfragen mitreden können.

Besprochen von Uli Müller

Joseph Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft
Siedler Verlag, München 2010
448 Seiten, 24,95 Euro