Für eine "islamische Reformation"

Vorgestellt von Rudolf Walther · 28.07.2006
Der aus dem Iran stammende Amerikaner Reza Aslan räumt in "Kein Gott außer Gott" mit einigen Vorurteilen gegen den Islam auf. Aslan macht klar, dass der Islam keine kriegerische Religion ist.
Es wird zudem deutlich, dass die von Fundamentalisten geforderte Rückkehr zum "reinen Islam" gar nicht möglich ist, da es diesen nie gegeben hat. Eine "islamische Reformation" hält der Autor für absolut notwendig.

Zu den Spätfolgen der Anschläge vom 11. September gehört eine wachsende Zahl von Büchern über den Islam. Stark vergröbernd lassen sich diese in zwei Kategorien einteilen. Das sind zum einen die meist politisch motivierten, eher journalistischen Bücher, in denen nachgewiesen werden soll, dass der Islam mit Aufklärung, Liberalismus, Pluralismus, Individualismus und Menschenrechten unvereinbar sei.

Das Buch des aus dem Iran stammenden Amerikaners Reza Aslan gehört nicht zu diesen Büchern, sondern zu jenen, die über den Islam, muslimische Kultur und Geschichte aufklären.

Wie aktuell das ist, erkennt man, wenn man den Jargon hört, mit dem pauschal über den Islam geredet wird. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Sohn Billy Grahams und geistliche Berater des amerikanischen Präsidenten nannte den Islam öffentlich eine "bösartige Religion". Viele Kommentatoren beschwören nach jedem Anschlag bereits einen bevorstehenden Kampf der monotheistischen Religionen oder einen Krieg gegen den "Islamismus".

Aslan dagegen will einen Beitrag dazu leisten:
"die Mentalität eines Kampfes der monotheistischen Religionen zu überwinden, die sich in das Bewusstsein der modernen Welt so tief eingegraben hat. Bildung und Toleranz spielen natürlich eine wichtige Rolle. Was wir aber am dringendsten brauchen, ist nicht so sehr eine besseres Verständnis für die Religion unserer Nachbarn, sondern ein tieferes und umfassenderes Verständnis der Religion an sich."

Aslan tut das, indem er die Geschichte des Islams sachkundig erzählt. Dabei wird schnell deutlich, wie falsch Fundamentalisten liegen, die eine Rückkehr zum vermeintlich "reinen Islam" der Anfänge fordern.

Der Islam war von seinem Beginn im 7. Jahrhundert an eine vielgesichtige Religion mit zahlreichen Abweichungen und unterschiedlichen Koran-Interpretationen. Zu nennen sind insbesondere die drei Hauptströmungen: Sunniten, Schiiten und die islamische Mystiker, die Sufis. Aslans nüchternes Fazit lautet:

"Die Vorstellung eines ursprünglichen, unverfälschten Islams ist historisch gesehen eine Fiktion."

Im ersten Kapitel macht Aslan deutlich, wie sehr sich der Islam an den anderen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Zoroastrismus, orientiert und wie stark er aus einer multireligiös und multiethnisch geprägten Gesellschaft hervorgeht.

Die Spuren dieser aus Stammesgesellschaften erwachsenen Religion sind nachweisbar in der Abneigung gegen Hierarchien, aber auch in der Betonung des solidarischen Zusammenhalts als Mittel, sich gegen andere Stämme zu behaupten.

Muhammad und seine zunächst kleine Gemeinde mussten Mekka verlassen, als dem dort herrschenden Stamm die sozialreformerische und universale religiöse Sprengkraft des neuen Glaubens klar wurde. Die umma, das heißt die Gemeinde der Gläubigen, wuchs in Medina schnell. Sie nannten sich "Muslime", was so viel bedeutet wie, "die sich Gott ergeben" und bekannten sich zum Credo:

"Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist der Gesandte Gottes."

Die in Medina gebildete Glaubensgemeinschaft war, soweit man aus der eher dürftigen Überlieferung weiß, eine religiöse und zugleich soziale Ordnung, die allen offen stand und ein hohes Maß an Gleichheit, auch zwischen den Geschlechtern, garantierte.

Die Muslime lebten mit Christen und Juden zusammen. Frauen waren erbberechtigt, hatten das Recht auf Ehescheidung, und die Zahl der Ehefrauen blieb auf zwei beschränkt. Muhammad selbst lebte 25 Jahre lang monogam.

Freilich trägt der Koran auch Züge einer kulturellen Umgebung, in der eine völlige Gleichrangigkeit der Frauen nicht existierte. Aslan betont jedoch, dass Frauen diskriminierende Normen zum größten Teil erst nach Muhammads Tod durch männliche Schrift- und Rechtsgelehrte aus dem Koran abgeleitet beziehungsweise in diesen hinein interpretiert wurden.



Schon 200 Jahre nach seinen Tod existierten nicht weniger als 700.000 angeblich authentische Geschichten und Aussprüche des Propheten, mit denen Gesetzeslücken gefüllt wurden. Für Aslan wie für die muslimische Frauenbewegung steht fest, "dass muslimische Männer und nicht der Islam für die Unterdrückung der Frauen verantwortlich sind."

Mit keinem Begriff aus dem Koran wurde und wird so viel Missbrauch getrieben wie mit dem Wort "dschihad". Schon Max Weber meinte, der Islam sei eine "Kriegerreligion". Derlei gehört, wie Aslan feststellt, zu den Relikten der Kreuzzugspropaganda, denn "dschihad" bedeutet nicht "Krieg", sondern ist ein primär religiös besetztes Wort und meint den "Einsatz nach dem Willen Gottes." Bei der Rückkehr der Glaubensgemeinschaft von Medina nach Mekka war dieser Einsatz zwar militärischer Art, aber das ist ein Sonderfall.

Auch die mörderischen Diadochenkämpfe nach dem Tod Muhammads trugen dem Islam, der Angriffskriege ebenso ablehnt wie den Glaubenszwang, den Ruf ein, eine kriegerische Religion zu sein. Dabei wird übersehen, dass sich nach dem Tod des Propheten im Jahre 632 schnell eine Arbeitsteilung herausbildete: Die Kalifen beanspruchten die weltliche Macht und überließen die Religion und die rechtliche Normierung des Alltags den Religionsexperten und Rechtsgelehrten, den "ulama".

Das war eine ausgesprochen folgenreiche Entwicklung, denn fortan erhielt die Geistlichkeit die religiöse Oberhoheit. Das führte zur Konkurrenz zwischen einer traditionalistischen Orthodoxie, die sich strikt am Korantext orientierte, und einer flexiblen, auf Anpassung und Pluralismus bedachten Auslegung der Schrift und ihrer immanenten Widersprüche.

Immer behielten die Orthodoxen die Oberhand und verhinderten die rationale Erörterung und den argumentativen Streit über rechtliche, ethische und religiöse Fragen. Besonders verpönt war das in der wichtigsten Abspaltung vom sunnitischen Islam, im Schiitentum.

Hier sollten religiöse und politische Herrschaft zusammenfallen und dem frömmsten Mitglied der Glaubensgemeinschaft zukommen. Ihren extremen Ausdruck fand diese Theokratie nach 1979 im Iran des Ayatollah Chomeini. Dieser formulierte seinen Machtanspruch so:

"Wenn ein fähiger Mann, der die beiden Eigenschaften (Kenntnis der Gesetze und Sinn für Gerechtigkeit) besitzt, auftritt und eine Regierung bildet, verfügt er über die gleichen Vollmachten bei der Verwaltung des Gemeinwesen, über die der Prophet verfügte."

Dieser Anspruch steht sowohl im Widerspruch zum Koran wie zu den religiösen Dogmen des Schiitentums. Seit dem 18.Jahrhundert und verstärkt seit dem 19. Jahrhundert gibt es neben den ultrakonservativen und puritanischen Strömungen auch islamische Reformbestrebungen.

Die beiden wichtigsten sind die von Muhammad Abduh und Hasan al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft. Sie plädierten für eine möglichst weitgehende Rückkehr zu den Werten der Urgemeinschaft von Medina und für eine rationale Textauslegung sowie ganz entschieden gegen jede politisch-weltliche Macht für die Geistlichen. Deshalb ist es ein Anachronismus, wenn Aslan den Muslimbruder Sayyid Qutb als Ideengeber des terroristischen Islamismus bezeichnet. Dieser beruht nicht auf Qutbs radikal-theologischen Traktaten, sondern entstand nach der katastrophalen Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg von 1967.

Im abschließenden Kapitel stellt Aslan die Frage:
"Kann ein moderner islamischer Staat Vernunft und Offenbarung miteinander in Einklang bringen und eine demokratische Gesellschaft auf der Basis der sittlichen Ideale aufbauen, die der Prophet Muhammad vor 1400 Jahren in Medina formuliert hat?"

"Er kann nicht nur, er muss", antwortet Aslan ebenso kurz wie entschieden.

Für europäische Überlegenheitsflausen gibt es keinen Anlass. Auch die Geschichte des Christentums ist eine voller Gewalt bis hin zu den Religionskriegen im Anschluss an die Reformation. Und nach dem Dreißigjährigen Krieg von 1618 – 1648 hat es nochmals 200 Jahre gedauert, bis die Religionen sich mit dem Pluralismus und der staatlich garantierten Religionsfreiheit abfanden.

Aslan hält eine "islamische Reformation" für unumgänglich. Sie müsste den Vorrang von Demokratie und Menschenrechten vor der Interpretation des Islam akzeptieren und damit eine säkularisierte politische Gewalt.

Den Furor des Säkularismus, das heißt die mehr oder weniger vollständige Verbannung der Religion aus der Öffentlichkeit und dem Alltag, lehnt Aslan dagegen strikt ab.

Das Buch ist gut lesbar und auch für Leser ohne religiöse Vorkenntnisse des Islams und seiner Geschichte geeignet. Es bietet eine ausgezeichnete Basis für eine Versachlichung der zuweilen aufgeregten Diskussion.

Reza Aslan: Kein Gott außer Gott
Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart

Aus dem Englischen von Rita Seuß
C.H. Beck Verlag, München 2006
Coverausschnitt: "Kein Gott, außer Gott"
Coverausschnitt: "Kein Gott, außer Gott"© C.H. Beck Verlag München