Für die Schwachen Partei ergreifen

04.03.2013
Während des Zweiten Weltkrieges betreut ein Medizinstudent mit Einfühlungsvermögen und Geduld die Insassen einer Nervenheilanstalt in der Toskana - und rettet sie schließlich an einen Ort, an dem sie unbehelligt leben sollen. Ein humanistisches Buch von Ugo Riccarelli, das aber wenig zeitgenössisch wirkt.
Beniamino hatte schon immer etwas für die Irren übrig. Seit seiner Kindheit beobachtet der invalide Medizinstudent die Insassen des benachbarten Krankenhauses, die im Garten umherspringen, Blumen essen, Lieder singen, laut schreien oder von früh bis spät Homer rezitieren. Als plötzlich Beniaminos Vater stirbt und seine Mutter nicht mehr weiß, wie sie den Lebensunterhalt der Familie bestreiten soll, bittet er im Irrenhaus um eine Anstellung.

Im Unterschied zu den anderen Pflegern begegnet er den Kranken mit Anteilnahme, hört ihnen zu und lässt sich auf ihre Wirrnis ein. In diesen Fähigkeiten erkennt der neue Arzt Doktor Rattazzi, vom Personal wegen seiner fortschrittlichen Behandlungsmethoden verlacht, Beniaminos eigentliche Bestimmung. Mitten im Zweiten Weltkrieg verwirklichen die beiden Männer eine Vision und retten die Kranken an einen Ort, wo sie unbehelligt leben können, bis sie auch dort zum Spielball der politischen Verhältnisse werden.

Ugo Riccarelli, 1954 im piemontesischen Cirié bei Turin geboren, seit Jahrzehnten in Rom zu Hause und lange Zeit im Kulturamt beschäftigt, wendet sich in seinen Büchern häufig den bäuerlichen Wurzeln Italiens zu. Als Sohn toskanischer Eltern wählte er schon mehrfach die Toskana als Schauplatz, und dort spielt auch sein neuer Roman Die Residenz des Doktor Rattazzi. Die kleinen Dörfer sind Hort eines ursprünglichen Anarchismus und politischer Gewitztheit; hier tobten nach 1943 die Kämpfe zwischen Partisanen und Faschisten besonders heftig.

Seit seinem autobiografisch inspirierten Debüt Le scarpe appese al cuore (1995) über eine lebensrettende Herz- und Lungentransplantation behandelt Ugo Riccarelli neben historischen Sujets immer wieder Grunderfahrungen des menschlichen Daseins: die Hoffnung auf ein besseres Leben und das Scheitern von Utopien. In seinem bisher schönsten Buch, dem Erzählungsband Fausto Coppis Engel (2001), standen Sportler im Mittelpunkt, deren Siege, Niederlagen und Abstiege zu Metaphern des Lebens wurden. In Die Residenz des Doktor Rattazzi geht es um neue Ansätze im Umgang mit psychiatrischen Patienten, wie sie in Italien unter dem Psychiater Franco Basaglia (1924-1980) in den sechziger Jahren tatsächlich entwickelt werden sollten.

Ugo Riccarelli lässt seinen Helden erkennen, dass gerade die Versehrungen den Menschen ausmachen. Beniamino muss erst aufhören, mit seiner eigenen Invalidität zu hadern, um dann die Symptome der Kranken als Teil ihrer Persönlichkeit zu begreifen und zuzulassen. Riccarellis Menschenbild ist äußerst sympathisch, sein Roman hat kraftvolle Momente und gewinnt an Fahrt, als die Faschisten die neu eröffnete Zufluchtsstätte für die Kranken überfallen. Doch so wohltuend Riccarelli in seinem Humanismus ist, so wenig zeitgenössisch wirkt sein Buch. Der Wahlrömer vertritt einen wackeren Realismus, der mitunter etwas Betuliches bekommt. Immerhin: mitten in der popkulturellen Gegenwart pflegt er die Tugenden des Erzählens und ergreift Partei für die Schwachen.


Besprochen von Maike Albath

Ugo Riccarelli: Die Residenz des Doktor Rattazzi
Aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki
Zsolnay Verlag, Wien 2013
189 Seiten, 18,90 EURO