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Ulf Erdmann Ziegler: "Schottland und andere Erzählungen"
Stille Sternstunden des Alltags

Wer sagt denn, dass es heute keine Wunder und keine Engel mehr gibt? Ulf Erdmann Ziegler zumindest erzählt in seinen Kurzgeschichten von Zaubermomenten und Engeln in Menschengestalt, verliert sich dabei aber manchmal allzu sehr in banalen Details.

Von Gisa Funck | 09.01.2019
    Der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler und sein Erzählband „Schottland und andere Erzählungen”
    Der Formulierungsmeister des kühl-lakonischen Understatements: Ulf Erdmann Ziegler (Cover Suhrkamp Verlag / Autorenfoto Jelina Berzkalns)
    Ulf Erdmann Ziegler gilt als origineller Chronist der alten Bundesrepublik und als genauer Beobachter seiner eigenen, ideologiekritischen Nach-68er-Generation. Sein neues Buch, einen Band mit vierzehn Erzählungen, hat Ziegler nun nicht ohne Grund dem im März verstorbenen Alltags-Chronisten Michael Rutschky gewidmet. Und damit einem Literaten, der zeitlebens dafür eintrat, die Eigentümlich- und Einzigartigkeit von Lebensläufen gegenüber den Pauschal-Etikettierungen der Soziologie und Psychologie zu verteidigen und gerade das Unverwechselbare jeder Biografie hervorzuheben.
    Scheinbar unspektakuläre, aber schicksalsträchtige Kippmomente
    Dieses Credo scheint nun auch Ziegler in seinen vierzehn Kurzgeschichten geleitet zu haben, die von Ausnahme- und Kippmomenten sogenannter Normalleben handeln, von den stillen Sternstunden des Alltags.
    Da gibt es etwa die Geschichte einer jungen, gut bezahlten Biologin aus Hamburg, die jeden Abend nach ihrem Job im Hightech-Labor um die Alster joggt – und schon mit 27 Jahren Besitzerin eines eigenen Hochhaus-Apartments ist. Alles scheint in diesem Karriere-Leben nach Plan zu laufen. Doch in Wahrheit steht die junge Wissenschaftlerin kurz vor dem Zusammenbruch, weil sie sich mit der Fürsorge ihrer alleinstehenden, krebskranken Mutter völlig überfordert fühlt – und überhaupt Schwierigkeiten hat, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten:
    "Manchmal denke ich, dass ich wie Mami enden werde. Aber wahrscheinlich sterbe ich nicht an Krebs, sondern an Einsamkeit. Ich betrachte mich im Spiegel. Da gibt es nichts gar nichts auszusetzen, wirklich nicht. Beim Joggen merke ich, wie die Blicke an mir kleben. Nur was soll ich tun? Mir ein T-Shirt drucken lassen? 'Mache es mit jedem Mann unter 35, der sich gewaschen hat, nicht verklemmt oder pervers ist!' Am Ende bin ich verschwitzt und allein zu Haus."
    Ein engelhafter Taxifahrer
    Geradezu wundergleich ist es bei Ziegler dann schließlich ein zufällig auftauchender Taxifahrer, der die Yuppie-Schönheit aus der Isolation errettet. Überhaupt spielt der Zufall, das Wundersame und Unkalkulierbare in diesen Geschichten durchgängig eine entscheidende Rolle.
    So beispielsweise auch bei Hermann, von dem gleich zwei Erzählungen handeln: ein leicht abgewrackter Ex-Punk, samt typischer Punk-Sozialisation als Schul-Abbrecher, Querulant und Übersiedler nach Berlin-Kreuzberg in den 80 Jahren. Dort wurde Hermann dann angeblich Mitbegründer des legendären Punk-Schuppens SO 36 und machte in den 90ern als Techno-Manager weiter. So weit, so typisch rabaukig. Doch plötzlich nimmt auch Hermanns Geschichte bei Ziegler eine überraschende Wendung, als ihn ein Freund spontan zu einem Claude-Debussy-Konzert mitnimmt:
    "Bis zur Pause fand Hermann das Gesäusel grenzwertig, aber als sie wieder im Saal saßen, bemerkte Hermann diese Stille, diese absolute Stille der Erwartung, und plötzlich war er gerührt vom ersten Ton, hineingesogen gegen seinen Willen, und als es vorbei war, wusste er, dass etwas Neues begonnen hatte, auch wenn diese Musik über hundert Jahre alt war."
    Postmodern runtergekühlte Weihnachtsgeschichte
    Aus dem punkigen Hermann wird fortan ein Klassik-Fan und PR-Mann für Kammermusik werden. Und nicht nur das. Ausgerechnet Hermann, der vorher alles Bürgerliche und seinen Banker-Bruder Joachim zutiefst verachtet hat, wird bei Ziegler schließlich ins Vorort-Häuschen seiner verstorbenen Eltern einziehen, um dort wiederum zufällig seiner alten Jugendliebe zu begegnen – und ihrem, vielleicht sogar einst von ihm selbst gezeugten Sohn Tobias. Wieder so ein paar irrwitzige Zufälle. Und wenn man dann auch noch liest, dass das alles pünktlich zu Weihnachten stattfindet, kommt man ins Grübeln.
    Ist das nun Kitsch? Oder vielleicht doch eher eine postmodern runtergekühlte Form von Romantik? Wohl eher letzteres. Da mögen andere Rezensenten beim ehemaligen Kunst- und Fotografie-Kritiker Ulf Erdmann Ziegler noch so sehr dessen analytisch genauen Blick betonen und seine, mit allen Theorie-Wassern gewaschene Intellektualität: Man sollte sich davon nicht allzu sehr täuschen lassen. Hinter all der Gelehrsam- und Kunstfertigkeit ist Ziegler ein ziemlich romantischer Autor. Und zwar romantisch in dem Sinne, dass seine Helden und Heldinnen von einer Sehnsucht nach transzendentem Sinn getrieben sind – und im neuen Erzählband regelmäßig quasi-religiöse Wunder-Erfahrungen machen. Beziehungsweise: Engeln in Menschengestalt begegnen.
    "Angelika", die Engelhafte, heißt an anderer Stelle nicht zufällig jene Studienfreundin, die einem Studienanfänger den entscheidenden Anstoß zu einer sehr erfolgreichen Vertreterkarriere gibt. Öfter aber ist es in Zieglers Geschichten die Kunst, oder genauer gesagt: die Beschäftigung mit Kunst, Literatur oder Tanz, der die Funktion eines kathartischen Läuterungsmittels zukommt und die Protagonisten somit erst bereit für ihre Erweckung oder Verzauberung macht.
    Das trifft nicht nur auf den Ex-Punk Hermann zu, der durch die Klänge Debussys verwandelt wird, sondern etwa auch auf den Icherzähler der ersten Geschichte, bei dem stundenlanges Bücherlesen bezeichnenderweise mit dem Sich-Verlieben in eine Mitstudentin einhergeht.
    Erweckung durch Bücherlesen oder Klassik-Hören
    Dieser 25-jährige Psychologie-Student, der wie einst sein Schöpfer im Berlin-Neukölln der 80er Jahre zuhause ist, hat sich nämlich in den Kopf gesetzt, exakt jene 54 Bücher durchzuarbeiten, die er vor seinem Studium in der Ferienwohnung einer Uni-Dozentin entdeckt hat. Ein privates Literatur-Evangelium aus Theorie-Klassikern, angefangen bei Spenglers "Untergang des Abendlandes" über Kittlers "Aufschreibesysteme" bis hin zu Baudrillards Simulations-Thesenschrift "Der symbolische Tausch und der Tod":
    "Ich weiß natürlich, dass mein Vorgehen abergläubisch ist, wenn nicht sogar lächerlich. Abergläubisch, weil das gut zwei Meter lange Bücherbord im griechischen Ferienhaus der Privatdozentin für mich einen Kanon darstellt. Lächerlich, weil ich die Titel in der Reihenfolge bestelle und lese, in der sie im kretischen Haus gestanden haben. Buch für Buch, und ich fiebere dem Moment entgegen, indem ich das vierundfünfzigste Buch – gelesen, natürlich – zurück ins Regal stellen werde, obwohl ich mich auch davor fürchte."
    Vom Inhalt her erzählt Ziegler in seinem Erzählband eigentlich postmoderne Wundergeschichten. Nur klingt das bei ihm – dem Formulierungsmeister des kühl-lakonischen Understatements – überhaupt nicht weihevoll oder pathetisch, weil er sich auch diesmal wieder viel Mühe gibt, selbst merkwürdigste Zufälle oder schicksalhafteste Begegnungen betont unaufgeregt, aus Sicht des sachlich registrierenden Beobachters zu schildern.
    Man kennt dieses trickreiche Verfahren eines cool-distanzierten Tonfalls für eigentlich pathosträchtige Schicksalsdramen auch schon aus seinen vorherigen Büchern. Diesmal jedoch, in den neuen Erzählungen, übertreibt es Ziegler stellenweise mit seinem betont nüchtern-akribischen Chronisten-Stil. So, als sei ihm das Wundersam-Irrationale seiner Geschichten selbst unheimlich geworden – und als wollte er jedem Kitschverdacht von vornherein durch eine buchhalterische Fakten-Aufzählung vorbeugen. Was dann leider vor allem in der Titelgeschichte "Schottland" ziemlich schiefgeht.
    Ärgerlich: verquatschte Titelgeschichte voller überflüssiger Nebeninfos
    Auch die handelt wieder von schicksalhaft-merkwürdigen Zufällen, die diesmal der israelischen Profi-Tänzerin Rebecca in der schottischen Küstenstadt Dundee zustoßen. Hier ist die Stimmung im Sommer 2016 nach dem britischen Brexit-Entscheid patriotisch aufgeheizt, und es wird angesichts eines Unabhängigkeitsreferendums darüber diskutiert, ob Schottland sich nicht besser vom Vereinigten Königreich lossagen sollte. So wird Rebecca vor allem nachts an der Theke Zeugin, wie Patriotismus immer öfter in Nationalismus umschlägt. Oder, wie der Australier Spencer es einmal gegenüber dem Nationalisten Davy formuliert:
    "Weißt du, was urschottisch ist, Davy?", sagte Spencer. "Urschottisch ist, in lichtlosen Lehmhütten im Hochland zu leben und nichts zu beißen zu haben. (...) Urschottisch ist, im karierten Rock einer mittelmäßigen Fußballmannschaft hinterher zu reisen – mit einer irischen Fluggesellschaft natürlich!"
    In solchen Spottsätzen bringt Ziegler die Idiotie eines gerade überall in Europa grassierenden, nationalen Fieberwahns gut auf den Punkt, den er dann eigentlich recht geschickt mit der Grenz-überwindenden Verliebtheitserfahrung seiner Heldin zu einem isländischen Kunststudenten verschaltet. Doch leider hat Ziegler seine Icherzählerin Rebecca mit einem schrecklich losen Mundwerk ausgestattet, sodass diese ständig auch völlig überflüssige Informationen von sich gibt. Wenn Rebecca zum Beispiel Fahrrad fährt, lesen wir gleich mehrmals, dass dieses Fahrrad eine Dreigangschaltung hat. Wenn sie sich die Hände wäscht, wird uns nicht nur genauestens die Konsistenz der Seife mitgeteilt, sondern auch die exakte Beschaffenheit des Handtuchs. Und wenn Rebecca abends in der Kneipe einem Akkordeonspieler zuhört, überlegt sie bei Ziegler allen Ernstes, ob der wohl als erstes die Taste mit dem Ton C gedrückt hat.
    Mag sein, das ist dem fotografisch genauen Blick geschuldet, den andere Kritiker so sehr bei Ziegler loben. Doch wer ständig derart supergenau, quasi in aller Porentiefe seine Umwelt beschreibt, bei dem ist Papier dann eben doch sehr geduldig. Und das Erzählte wirkt schnell weniger geheimnisvoll-poetisch als schlicht geschwätzig.
    Das ist schade. Weil der verkappte Romantiker Ziegler eigentlich durchaus fesselnd von den Wundermomenten unseres Alltags erzählen kann. Und an anderer Stelle die wichtigste Regel beim Schreiben sehr viel besser beherzigt, die bekanntlich lautet: Die entscheidenden Sätze guter Literatur sind vor allem die, die gar nicht im Text stehen – weil man sie vorher als überflüssig erkannt und rausgestrichen hat.
    Ulf Erdmann Ziegler: "Schottland und andere Erzählungen"
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 190 Seiten, 22 Euro.