Fritz Mertens: "Ich wollte Liebe und lernte hassen!"

Emotional verdurstet und durch Gewalt abgestumpft

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Fritz Mertens wurde zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt. Nach dem Gefängnis gründete er ein Jugendzentrum. © Diogenes / Zsolnay/ dpa picture alliance
Von Ulrich Noller · 19.06.2018
Fritz Mertens war 19, als er zwei Jugendliche tötete. Im Prozess und in der Haft schrieb er auf, wie seine Jugend verlief, wie ihn seine Familie drangsalierte und malträtierte. Mertens Bericht ist ein Appell für gegenseitige Fürsorge.
Fritz Mertens hat zwei Menschen getötet, die Polizei fand sie im Dezember 1982 in einer Wohnung in Villingen im Schwarzwald: Der 19-Jährige erstach zunächst einen anderen jungen Mann, der ihn mit seiner Freundin im Bett erwischt hatte; dann auch das Mädchen, weil sie nicht aufhören wollte zu schreien. Anschließend kippte er Rum über die Körper, den er anzündete, in einem hilflosen Versuch, die Spuren zu beseitigen, das schwer verletzte Mädchen lebte zu diesem Zeitpunkt wohl noch. Was bringt jemanden, der das Leben noch vor sich hat, zu so einer Tat? Und wie ist es zu erklären, dass er so blindwütig, dass er mit einer derartigen Gewaltorgie auf die Situation reagierte?
Eine Antwort ist: Fritz Mertens, 19, hatte zum Zeitpunkt seiner Tat keineswegs noch alles vor sich – eher war es so, dass er schon "alles" erlebt hatte. Alles an Demütigungen, Traumatisierungen, Zurückweisungen, Qualen, was man sich weder vorstellen mag noch ausmalen kann. Eine Kindheit ohne jede Gnade, ohne Licht – geprägt von Missachtung, Misshandlung, Kälte, Gleichgültigkeit. Beide Eltern waren schwere Alkoholiker, Mertens musste als Ältester von vier Kindern nicht bloß den Haushalt und die Geschwister organisieren, sondern auch bis zum Umfallen in der Kneipe der Mutter schuften; zum "Dank" gab es Schläge und Erniedrigungen. Mertens beschreibt das im Detail, sachlich, fast, als staune er über sich selbst und sein kleines Leben. Am erschütterndsten ist, wie der Junge trotzdem immer wieder hofft, wie bedingungslos er die Eltern trotz allem liebt, wie er vergeblich um Liebe bettelt. Was er lernt: Es gibt keine Hoffnung. Und keine Lösung. Probleme kann man nicht klären – es hilft nur Gewalt.

Ein 500-Seiten-Lebensbericht für den Richter

Um die 500 Seiten waren es, die der Angeklagte in Untersuchungshaft über sein Leben schrieb und dem Gerichtsgutachter Reinhart Lempp übergab, der die Aufzeichnungen später, auf Wunsch des Angeklagten, an den Diogenes Verlag weitergab, so dass letztlich das vorliegende Buch daraus werden konnte.
Lempp: "Anfangs noch etwas steif und holperig, dann aber von Seite zu Seite flüssiger geschrieben, sah ich mich bald gefangen genommen von der Ursprünglichkeit und Offenheit, vor allem aber vom Gewicht des kindlichen jungenhaften Erlebens, wie da geschildert wird, wie ein Junge zwischen Hoffnung und sich immer wiederholender Enttäuschung hin- und hergerissen wird, wie er Verständnis sucht und abgewiesen wird, immer wieder, immer noch einmal.
Alle diese Erfahrungen haben sich bei ihm offenbar eingekerbt in seiner Erinnerung, so dass er sie dem Erleben entsprechend wiedergeben konnte, ja wohl musste, um nicht daran zu ersticken." Und das ist das Erschütterndste an diesem aufwühlenden Text: Zwei Menschen mussten sterben, damit er entstehen konnte und entstanden ist er, weil sich in der Folge dieser Tötungen erstmals überhaupt irgendwie irgendeiner für Fritz Mertens interessierte.

Keine Rechtfertigungen oder Entschuldigungen

Warum also ist es so weit gekommen? Fritz Mertens erklärt und entschuldigt nichts, er versucht keine Rechtfertigung; er beschreibt lediglich sein Leben. Trotzdem liefert sein Text alle Antworten, die es braucht. Es geht dabei um Bindung und Bildung: Mertens Bericht schildert – ungewollt – exemplarisch, welche Wüste sich in kindlichen und jugendlichen Gefühlslandschaften ausbreiten kann, wenn eine Bindungsstörung immer weiter und immer tiefer wirkt. Und er zeigt ex negativo wie bedeutsam es ist, von den Eltern und der Umgebung ein Arsenal an Mitteln beigebracht zu bekommen, um Situationen, mit denen das Leben einen konfrontiert, begegnen zu können. Immer wieder lassen die Eltern ihren Sohn in existenziellen Situationen emotional verdursten, und wie Mertens das schildert, ist fast noch erschütternder als die Gewalt, die er erfährt.
All das ist 2018 noch genau so aktuell wie im Jahr 1984, also in dem Jahr, in dem dieses Buch erstmals erschien. Vielleicht ist es jetzt sogar "aktueller", also in Zeiten, in denen von der Justiz statt "zu viel Verständnis" häufig "endlich wieder mehr Konsequenz" gefordert wird. Fritz Mertens wurde ein Jahr nach der Tat überführt und zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt. Nach dem Gefängnis gründete er ein Jugendzentrum. Mertens starb 2008 an den Folgen eines Schlaganfalls.

Fritz Mertens: "Ich wollte Liebe und lernte hassen! Ein Lebensbericht"
Mit einem Vorwort von Reinhart Lempp
Diogenes, Zürich 2018
336 Seiten, 16 Euro

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