Friesische Minderheit in den Niederlanden

Geschichten zwischen Grachten und Gefängnis

03:10 Minuten
Die historische Ratswaage in Leeuwarden am Abend.
Das niederländische Friesland hat nicht nur Grachten zu bieten. Eigenheiten und Geheimnisse erklären die "Leihfriesen" auf ihren Touren durch Leeuwarden. © imago/ ecomedia/ Robert Fishman
Von Malte Pieper · 12.09.2019
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Die niederländischen Friesen fühlen sich noch immer missachtet. Erst seit wenigen Jahren ist ihre Sprache gleichgestellt. Im friesischen Leeuwarden kann man sich echte Friesen für eine Stadtführung "ausleihen". Für die Guides ist das eine Herzensangelegenheit.
Wir stehen mitten im Wald. Etwa 20 Kilometer südöstlich von Frieslands Hauptstadt Leeuwarden, ganz im Norden der Niederlande. Und wir stehen auf historischem Grund, erzählt Jacob van der Wij. "Genau an dieser Stelle, wo wir jetzt stehen", sagt er, "verlief er nämlich, der zentrale Weg, die zentrale Route der Migranten!" Jahrhundertelang zogen sie hier vorbei: Deutsche Wirtschaftsflüchtlinge, auf der Suche nach einer besseren Zukunft:
"Die Menschen, vor allem in Westfalen und dem Emsland, litten damals stark unter Arbeitslosigkeit. Sie hatten kein Geld, wussten nicht, wie sie ihre Familien finanzieren sollten. Holland hatte aber zu dieser Zeit sein ‚gouden eeuw‘. Sprich: Es lief wirtschaftlich. Man war reich. Man brauchte Arbeitskräfte. Zehntausende Deutsche sind deshalb damals jedes Jahr als Gastarbeiter in die Niederlande gegangen."
Jacob van der Wij hat leuchtende Augen, während er die Geschichte hier im Wald vorüberziehen lässt. Er ist ganz in seinem Element. "Wir wollen mit unserem Projekt 'Leih dir einen Friesen' unseren Besuchern das größte Gut zeigen, das wir hier im Norden der Niederlande haben: unsere Gemeinschaft", sagt er. Das Einander-Kennen, das Für-Einander-Einstehen:
"Das heißt auf Friesisch: 'Mienskip'. Wörtlich bedeutet das: zusammen, miteinander. Es geht um die Begegnung miteinander, dass man miteinander in Kontakt kommt. Der beste Weg: einander etwas erzählen."

Strafen für friesische Beschriftungen

Auch in den Niederlanden sind die Friesen nur eine kleine Minderheit, ganz im Norden des Landes. Immer in Gefahr, von der scheinbar übermächtigen niederländischen Kultur und Sprache vollends an den Rand gedrückt zu werden. Noch in den 50er-Jahren drohten den Bauern Strafen, wenn sie ihre Milchkannen für die Molkerei auf Friesisch beschrifteten. Erst seit einigen Jahrzehnten ist ihre Sprache vollkommen gleichgestellt. Und dennoch beherrschen nur noch rund zwei Drittel der gut 600.000 Einwohner der hiesigen Provinz das Friesische. Einer von ihnen ist Foppe Slotegraaf. Der Frührentner betritt gerade eine der Keimzellen des "neuen" Friesland. Mitten in der Provinzhauptstadt Leeuwarden, im früheren Gefängnis, haben sich Kreative, Künstler, aber auch ganz bodenständige Handwerker angesiedelt.
Die gemütlichen Straßen von Leeuwarde säumen Cafés und kleine Läden. 
Leeuwarden fördert im niederländischen Friesland die friesische Kultur und Sprachgebrauch.© imago images / Klaus Rose
"Man hat hier unter anderem kleine Läden für Künstler eingerichtet, aber auch ein Hostel. Wenn Sie also mal nachts in einer früheren Zelle schlafen wollen, dann können Sie das hier tun", sagt Slotegraaf.

Einführung in friesische Sitten

Er lässt den Blick über den früheren Gefängnisbau schweifen und geht weiter. Jahrzehntelang hat er für die niederländische Telekom gearbeitet, nun im Ruhestand lässt auch er sich ausleihen, schlendert dann mit Besuchern aus aller Welt durch seine Heimatstadt Leeuwarden. Erzählt von sich, von der friesischen Kultur, von den Sitten und Gebräuchen, die sich hier einbürgert haben. An der zentralen Gracht, einem der kleinen Kanäle durch Leeuwarden, bleibt Slotegraaf plötzlich stehen:
"Wenn die neuen Studenten kommen, dann haben sie zunächst eine Art 'Begrüßungswoche'. Eine der Aufgaben: Am Kanal entlang laufen und aus der Gracht weggeworfene Fahrräder bergen. Jedes Jahr kommen so 400 bis 500 Stück zusammen. Wenn dein Fahrrad also hier in Leeuwarden plötzlich mal weg ist, dann suchst du zuallererst bei uns in der Gracht."

Ein Ort für Wirtschaftsflüchtlinge

Er lacht und ist schon wieder um die Ecke. "Ich will zeigen, wie viel sich hier in den letzten Jahren getan hat", sagt er. Für viele Niederländer sei Friesland schließlich noch immer das wirtschaftliche Armenhaus des Landes. Regelmäßig tourt Slotegraaf inzwischen durch Leeuwarden. Kommt es hart auf hart, lässt er die Besucher, also die, die ihn "ausgeliehen" haben, auch schon mal bei sich übernachten. "Mienskip", Gemeinschaft auf friesische Art eben.
Sein Kollege Jacob van der Wij ist derweil 20 Kilometer entfernt am Ende seiner kleinen Wanderung entlang des Weges der deutschen Wirtschaftsflüchtlinge angekommen:
"Ich finde es wichtig, dass, wenn man hier ist, auch etwas über die Geschichte dieser Region kennt, in der es immer Migranten gegeben hat. Das war so vor 400 Jahren und das ist auch heute noch so, dass Menschen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben für sich und ihre Familie hierher kommen.
Egal ob Geschichtsstunde im Wald, Anekdoten zwischen Grachten und Gefängnis, die Vielzahl der Angebote der Friesen, die man sich ausleihen kann, ist riesig. Selbst Boote kann man ihnen bauen, den nördlichsten Winzer der Niederlande besuchen und natürlich Fahrradfahren. Das gemeinsame Erleben ist der Versuch, nicht in Vergessenheit zu geraten. In einer Welt, die scheinbar immer unübersichtlicher wird.
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