Friedrich Dürrenmatt

Grandioser Erzähler, bitterer Satiriker, unbestechlicher Denker

Friedirch Dürrenmatt sitzt an einem großen Schreitisch. (1988)
Fantasie zu haben ist nichts Gemütliches: Friedrich Dürrenmatt am Schreitisch (1988). © picture-alliance/ dpa / Marcus Thelen
Von Eva Pfister · 09.01.2021
Rachedurst, Doppelmoral, atomare Bedrohung: Stets schrieb Friedrich Dürrenmatt über menschliche wie gesellschaftliche Abgründe. Als Meister der Groteske lässt er uns darüber lachen – und meinte es doch bitterernst.
"Fantasie zu haben und Stoffe umzusetzen ist ja nichts Gemütliches. Sondern es ist etwas, was man ebenso unerschrocken tun muss, wie man im Grunde unerschrocken leben muss." Das sagte Friedrich Dürrenmatt, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre, einmal in einem Interview. Dürrenmatt selbst lebte unerschrocken mit den Schrecken seiner Fantasie und seiner Zeit und wurde damit erfolgreich. Er war ein grandioser Erzähler, ein bitterer Satiriker und ein unbestechlicher Denker, wenn er um Stellungnahmen zum politischen Geschehen befragt wurde.

Die Welt als Abgrund

Seine Theaterstücke "Der Besuch der alten Dame" und "Die Physiker" trafen während des Wirtschaftswunders und der atomaren Aufrüstung den Nerv der Gesellschaft. Der Pfarrerssohn, der am 5. Januar 1921 im Emmental, im Schweizer Kanton Bern, geboren wurde, war studierter Philosoph mit einem Hang zum Prediger.


In vielen seiner Texte und seiner Bilder malte er warnend die Apokalypse an die Wand – und das mit dem schwarzen Humor der Groteske: "Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat", schrieb er einmal. Dürrenmatt lässt die Zuschauer lachen – und dann in den Abgrund blicken, den für ihn die Welt bedeutete.
Für Ulrich Weber, den Verfasser einer grundlegenden Biografie, ist Dürrenmatt einer der faszinierendsten Autoren des 20. Jahrhunderts: "Ein Erkenntnisskeptiker, der jeden Zweifel zuließ, ohne je seine aufklärerische Grundeinstellung zu verlassen. Ein Weltenschöpfer, dessen Vorstellungskraft vor keinen räumlichen und zeitlichen Dimensionen haltmachte."
Vortrag von Ulrich Weber über Dürrenmatt und das "Anfangen":
Wir werden in dieser Langen Nacht Dürrenmatt als unsicheren jungen Mann kennenlernen, der sich in seiner engen kleinen Welt gefangen fühlt wie Minotaurus im Labyrinth, der nach einigen Irrwegen zu schreiben beginnt und mit zwei Kriminalromanen erste Erfolge als Schriftsteller verbuchen kann, bis er das Drama als die Kunst kennenlernt, die ihm am besten liegt. Und wir werden den reifen Dürrenmatt vorstellen, der sich selbst aus der Krise rettet, indem er sich nach dem Ende seiner Theaterkarriere als Essayist und Prosa-Autor neu erfindet.

Die Schuld der "Mitmacher"

Das Thema, das Dürrenmatt in vielen seiner Werke beschäftigt, ist die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, nach Schuld und Sühne. Im schwarzhumorigen Drama "Der Besuch der alten Dame", das 1956 uraufgeführt wird und ihn auf einen Schlag berühmt macht, geht es um ein unmoralisches Angebot, das die als Millionärin zurückgekehrte ehemalige Mitbürgerin Claire Zachanassian den Einwohnern des Städtchens Güllen macht: Sie bietet der Gemeinde und den Bürgern eine astronomische Summe, dafür, dass diese einen aus ihren Reihen umbringen – einen Mann, der der alten Dame in ihrer Jugend Unrecht getan hat. Zunächst lehnen die Bewohner empört ab – und knicken schließlich doch alle ein.
Ingrid Bergman in "Der Besuch" Film: "Der Besuch"1963.
Ingrid Bergman als Claire Zachanassian in "Der Besuch" von 1963.© picture-alliance / akg-images
"Der Autor schrieb als Mitschuldiger", heißt es in einer Anmerkung zum Stück, und er sei "nicht so sicher, ob er anders handeln würde" als die Einwohner von Güllen. Oft denkt Dürrenmatt darüber nach, wie viel Schuld in einem ganz normalen "Mitmacher" steckt – "Mitmacher" heißt auch eines seiner letzten Theaterstücke.
Andererseits hinterfragt er auch den Begriff der "Gerechtigkeit". In einem späten Text findet sich der erschreckende Satz: "Die Wahrheit und die Gerechtigkeit sind die größten Massenmörder der Geschichte."

Recht versus Gerechtigkeit

In seinem ersten Kriminalroman "Der Richter und sein Henker", der 1950 in Fortsetzungen in der Schweizer Monatszeitschrift "Der Beobachter" erschien und bis heute in einer Auflage von über fünf Millionen verbreitet ist, macht Dürrenmatt deutlich, wie weit Recht und Gerechtigkeit auseinanderklaffen können. Dem Protagonisten des Romans, Kommissar Bärlach, gelingt es darin nach langer Verfolgung schließlich nur dadurch, seinen verbrecherischen Gegenspieler zu besiegen, indem er täuscht, manipuliert und einen Mord vertuscht. Der biedere Kommissar erreicht damit Gerechtigkeit, aber nur, indem er sich über geltendes Recht hinwegsetzt.
Der Richter und sein Henker 1975, Regie: Maximilian Schell, Darsteller: Robert Shaw (links) und Martin Ritt.
Der Richter und sein Henker: Martin Ritt als Kommissar Bärlach (rechts) und sein Gegenspieler (gespielt von Robert Shaw) in einer Verfilmung von 1975.© picture alliance / United Archives / IFTN
Dürrenmatt wird sich im Lauf seines Lebens zum Atheismus bekennen, aber geprägt ist er von der frommen Atmosphäre eines protestantischen Pfarrhauses. Der Sohn eines Pfarrers zu sein, und das in einem Dorf im Emmental, war nicht leicht. Der Vater ist ein Vorbild, er hat eine Machtposition, und in diese Konstellation hat sich der Sohn zu fügen. Die Besessenheit in Bezug auf den Themenkomplex Schuld, Gerechtigkeit und Strafe lässt vermuten, dass der rebellische Pfarrerssohn sein Leben lang mit Schuldgefühlen zu kämpfen hatte.

Frühe Faszination für Katastrophen

Im Alter von 13 Jahren zieht er mit der Familie in die Stadt Bern. Dort besucht Friedrich Dürrenmatt das Gymnasium, aber er beginnt, sich zu verweigern. Er schwänzt die Schule, ist lernfaul, bald zieht er durch die Kneipen der Altstadt. Aber er malt und zeichnet wie besessen. Sein Leben lang malt und zeichnet Dürrenmatt beklemmende und apokalyptische Motive: Da stürzt der Turm von Babel zusammen, ein Todesengel küsst einen Menschen, Sterne verglühen im All, der Minotaurus wütet im Labyrinth.
Im Alter von 20 Jahren schließt Dürrenmatt nach mehreren Anläufen endlich das Gymnasium ab. Sein Traum, Maler zu werden, platzt, denn man hält ihn für unbegabt. Statt auf die Kunstakademie zu gehen, schreibt er sich an der Universität Bern für die Fächer Germanistik und Kunstgeschichte ein.

Vom Hitler-Anhänger zum Freund Israels

Während des Zweiten Weltkriegs gibt es in der Schweiz eine nicht kleine Minderheit, die für einen Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland plädiert, sogenannte Frontisten. Und so unglaublich es klingt: Friedrich Dürrenmatt ist eine Zeit lang einer davon. Rückblickend erklärt er das so: "Meine pubertäre Opposition hatte sich gegen die Welt meines Vaters fixiert, doch blieb sie emotional. Unfähig, seinem Glauben ein rationales Weltbild entgegenzusetzen, wählte ich den Weg ins Irrationale."
Eine andere Erklärung für die politische Verirrung des Zwanzigjährigen könnte sein, dass er sich in der vom Kriegsgeschehen verschonten Schweiz nicht geborgen, sondern gefangen fühlte. Er sieht hoffnungslos in die Zukunft, fühlt sich eingesperrt und vom großen Weltgeschehen ausgeschlossen. Dass er das "Verschontsein" von den Tragödien in Europa für sich als Problem empfand, hat er immer wieder betont.

Das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht finden Sie hier.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – inzwischen studiert er Philosophie – entscheidet sich Dürrenmatt für das Wagnis einer freien Existenz als Schriftsteller. 1946 bricht er das Studium ab, heiratet die Schauspielerin Lotti Geissler und zieht mit ihr nach Basel. Lotti Dürrenmatt hofft dort, ein Engagement zu bekommen, und auch ihr Ehemann hat nun Theaterluft geschnuppert. Kurz zuvor ist es ihm zum ersten Mal gelungen, ein Drama zu vollenden. Die Erkenntnis, dass auf der Bühne die Verbindung von Bildern und Sprache stattfindet, ist für den Autor ein Befreiungsschlag.
Der Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Essayist Friedrich Dürrenmatt, abgebildet Ende der 1940er Jahre.
Schriftsteller, Dramatiker und Essayist: Friedrich Dürrenmatt irgendwann Ende der 1940er-Jahre. © picture alliance / KEYSTONE
Spätestens mit dem Stück "Romulus der Große", das 1949 uraufgeführt wird, landet Dürrenmatt nicht nur einen großen Erfolg bei Kritik und Publikum, sondern erweist sich auch als politischer Autor: Die Farce stellt einen weisen Staatsmann ins Zentrum, der sich den nationalistischen Tugenden verweigert, der nicht heldenhaft in den Untergang gehen will, sondern den anstürmenden Feinden mit Sympathie entgegenkommt.
Noch deutlicher wird er in seinem zweiten Kriminalroman "Der Verdacht". Hier thematisiert er eine Schweizer Mittäterschaft am Holocaust, und das im Jahr 1951. Friedrich Dürrenmatt wird seine Empathie für jüdische Menschen sein Leben lang behalten, er wird auch immer für den Staat Israel Stellung beziehen.

Eine ernste Komödie über atomare Auslöschung

Eines seiner bekanntesten politischen Stücke, das seinen Ruhm als Theaterautor festigt, setzt sich mit der atomaren Bedrohung im Kalten Krieg auseinander. Mit Blick auf das Wissen über Kernspaltung formuliert er die schreckliche Erkenntnis: "Was einmal gedacht wurde, kann nicht zurückgenommen werden."
Trailer für "Die Physiker" am Schauspielhaus Graz (2019):
So entsteht sein Stück "Die Physiker", uraufgeführt am 21. Februar 1962 in Zürich. Darin zieht sich der geniale Wissenschaftler Johann Wilhelm Möbius in ein Irrenhaus zurück, um seine gefährliche Erfindung – es geht, wenn auch unausgesprochen, um Atomkraft – vor der Welt zu verbergen.

Sozialismus als Notwendigkeit

Obwohl er stets ein freier Geist bleibt und sich nie auf eine politische Linie verpflichten lässt, sympathisiert Dürrenmatt später auch mit dem Sozialismus und wehrt sich gegen den geradezu hysterischen Antikommunismus in der Schweiz zu Zeiten des Kalten Krieges. Als er im September 1968 an einer Veranstaltung gegen den Einmarsch der sowjetischen Armee in der Tschechoslowakei teilnimmt, betont Dürrenmatt, dass es nicht darum gehe, den Kommunismus an sich zu kritisieren:
"Der Kommunismus ist ein Vorschlag, die Welt vernünftiger einzurichten, ein Vorschlag zur Weltveränderung, den wir durchzudenken und, erkennen wir ihn als vernünftig, durchzuführen haben."
Dürrenmatt im Gespräch mit Heinz-Ludwig Arnold (1981):
Die Überzeugung, dass der Sozialismus notwendig ist, hat Dürrenmatt behalten. 1981 sagt er im Gespräch mit Heinz-Ludwig Arnold: "Ich glaube nicht, dass die Rohstoffe, die Energie, die auf dieser Welt immer knapper werden, dass die noch in private Hände gehören. Die sind in strengstem Sinn Allgemeingut geworden. Das Geschäft mit diesen Grundstoffen ist in der heutigen Zeit ein Verbrechen."

Mit "Monsterfrauen" zum Erfolg

Dürrenmatts politischer Zugriff ist radikal, sein Frauenbild entspricht allerdings dem Klischee der 1950er-Jahre. Die Frauenfiguren in seinen Theaterstücken muten uns heute befremdlich an: die gleichgültig liebende Anastasia aus der "Ehe des Herrn Mississippi" ebenso wie das überirdische Unschuldswesen Korrubi in "Ein Engel kommt nach Babylon".
Am auffallendsten sind aber seine "Monsterfrauen": Claire Zachanassian mit ihrer kühlen, unmenschlichen Rachsucht ist ebenso dämonisch wie die machtversessene Irrenärztin Mathilde in "Die Physiker". Die Faszination für diese Monsterfrauen scheint allerdings das Publikum mit Dürrenmatt zu teilen. Es sind nämlich gerade diese Figuren, die ihn reich und berühmt machen.

Wer Kunst will, muss das Scheitern wagen

Friedrich Dürrenmatt, der das Schreiben für die Bühne als Befreiung erlebt hat, bleibt dem Theater über Jahre eng verbunden, auch als Regisseur. Er inszeniert eigene Stücke, ist als Autor sehr oft bei Proben dabei und erlebt es als Höhepunkt, als der Basler Theaterdirektor Werner Düggelin ihn 1968 zur engen Mitarbeit an seinem Haus auffordert.
Charlotte Kerr und Friedrich Dürrenmatt in Locarno 1990. 
Charlotte Kerr und Friedrich Dürrenmatt, aufgenommen in Locarno im August 1990. © picture alliance / KEYSTONE / Christoph Ruckstuhl
Aber etwa zeitgleich gerät er in eine Stagnation, er spürt, wie diese glückliche Phase zu Ende geht. Über sein Scheitern als Dramatiker und darüber, wie er sich selbst als Prosaautor und Essayist neu erfindet, erzählt Dürrenmatt in der dritten Stunde der Langen Nacht. Und auch über seine späten Freundschaften und seine letzte Liebe: die Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr, die in den 1980er-Jahren eine Dokumentation über Dürrenmatt dreht. Am Ende dieses Films sagt Dürrenmatt:
"Im Grunde ist jede künstlerische Arbeit ein Wagnis, und man muss auch das Scheitern wagen. Wer das Scheitern nicht wagt, der soll die Hände von der Kunst lassen."

Zum Weiterlesen:
Ulrich Weber: "Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie"
Diogenes Verlag, Zürich 2020
714 Seiten, 28 Euro

Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Eva Pfister; Regie: Sabine Fringes; Sprecher: Susanne Flury, Christiane Lemm, Matthias Ponnier, Josef Tratnik; Redaktion: Monika Künzel; Webbearbeitung: Constantin Hühn

Über die Autorin:
Eva Pfister ist als freie Kulturjournalistin tätig. Sie promovierte nach ihrem Studium der Theaterwissenschaften, Romanistik und Philosophie in Wien und Bologna über die Dramatikerin Marieluise Fleißer. Unter anderem ist sie Autorin der Langen Nächte über Irmgard Keun und Hans Fallada.

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